Gottfried Benn: Doppelleben – Autobiographie, 1949: »es ist: das Dilemma der Geschichte. Die Geschichte! Das Abendland betet sie an. Bezieht aus ihr den größten Teil seiner Standardideologien: Tapferkeit, Ehre, Virtus, Vaterland(sverrat), Mannesmut, Treue, Selbstbehauptung, wer rastet, der rostet – allen Gewalten zum Trotz sich erhalten – die ganzen Jiujitsubegriffe des Nationalismus. Auch innerhalb des weitverzweigten philosophischen und künstlerischen Gewebes der letzten Jahrtausende liegen diese Worte und Vorstellungen als Kernbegriffe vor: Wallenstein, Tellheim, Prinz von Homburg, in Frankreich der Jean d'Arc-Mythos, in England die Königsdramen, bei den Hellenen die Perser, der Parthenonfries, die Ilias – d'Annunzio's Fiume – und wie steht es mit den Drei Grenadieren von Heinrich Heine? Was ist Pindar, der die Olympioniken besingt, – die Nibelungen, die Edda, die Alexanderschlacht und Platons Staat? Hinter allem steht eine einheitliche Figur: der Mann [gemeint ist auch: Hitler], der sich für eine geschichtliche Idee einsetzt, siegt und fällt, steht die Tapferkeit des Mannes, oft die gesetzesverleugnende, moralumschaffende Tapferkeit des Mannes — so kam es auf uns.
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Horst Seehofer am 12. März 2018, Pressekonferenz: »Ich hab‘ das Heimatmuseum äh…äahm..., das Heimatministerium gegründet […] das Heimat…äähmm…ministerium […] Alle bemächtigen sich jetzt des Themas ›Heimat‹«.
>Heimat< im Film: Babylon Berlin = Theater am Schiffbauerdamm; gespielte Zeit am ›Prangertag‹, dem 30. Mai 1929, da hatte das Theater noch einen Turm; Spielzeit ab 2017 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen; mehrfache Wiederholungen // >Heimat< in der Tagesschau fast täglich 2021: ►Teutsche Trutzburgen Unmittelbar auf die Verkündigung der Nürnberger Gesetze (1935), die Rassengesetze, die vor allem Ehen sowie außerehelichen Geschlechtsverkehr der Deutschen (so genannte >Arier<) mit Juden/Jüdinnen unter Strafe stellten, schrieb Brecht die Ballade von der Judenhure Marie Sanders, eines der eindringlichsten Texte über das leidige Thema. Die Verse stellen die Erniedrigung von Menschen durch die Nazis und die Menschenverachtung der Nazis in die Szenerie von mittelalterlichen Hexenverbrennungen, um so den ungeheuerlichen Anachronismus dieses Terrors im Deutschland des 20. Jahrhunderts sinnfällig zu machen.
Ballade von der Judenhure Marie Sanders 1 In Nürnberg machten sie ein Gesetz Darüber weinte manches Weib, das Mit dem falschen Mann im Bett lag. Das Fleisch schlägt auf in den Vorstädten Die Trommeln schlagen mit Macht Gott im Himmel, wenn sie etwas vorhätten Wäre es heute nacht. 2 Marie Sanders, dein Geliebter Hat zu schwarzes Haar. Besser, du bist heute zu ihm nicht mehr Wie du zu ihm gestern warst. Das Fleisch schlägt auf in den Vorstädten Die Trommeln schlagen mit Macht Gott im Himmel, wenn sie etwas vorhätten Wäre es heute nacht. 3 Mutter, gib mir den Schlüssel Es ist alles halb so schlimm. Der Mond sieht aus wie immer. Das Fleisch schlägt auf in den Vorstädten Die Trommeln schlagen mit Macht Gott im Himmel, wenn sie etwas vorhätten Wäre es heute nacht. 4 Eines Morgens, früh um neun Uhr Fuhr sie durch die Stadt Im Hemd, um den Hals ein Schild Das Haar geschoren. Die Gasse johlte. Sie Blickte kalt. Das Fleisch schlägt auf in den Vorstädten Der Streicher spricht heute nacht. Großer Gott, wenn sie ein Ohr hätten Wüßten sie, was man mit ihnen macht.
Vermutlich schrieb Brecht die Ballade auf ein Foto, das die Schergen deshalb für besonders typisch hielten, weil >der Jude< kleiner ist als die deutsche Frau, große Ohren hat und die (scheinbar >rassisch<) besonders markante Nase trägt. Das Paar wurde durch die Straßen getrieben und wie Vieh mit Schildern um den Hals öffentlich ausgestellt: »Ich bin am Ort / das größte Schwein / und laß mich nur mit Juden ein!« und »Ich nehm’ als Judenjunge / immer / nur deutsche Mädchen mit aufs Zimmer!«
Es war wohl mit ein Grund, dass der Eindruck entstand, Brecht habe sich um das Thema nicht gekümmert, weil er es nicht als moralisches Problem anerkannte – denn nach dem 2. Weltkrieg musste es moralisch, das heißt: heuchlerisch, behandelt werden –, und weil er meinte: »Schon als Sozialist habe ich überhaupt keinen Sinn für das Rassenproblem selber«. Der einfache Grund war, weil es gar kein Problem sein dürfte, weil es keine Rassen gibt und der Begriff »Rasse« auch endlich aus dem Grundgesetz zu verschwinden hat: ersatzlos. Das gilt vor allem für >Humanisten<, die sich aufs >Allgemein- Menschliche< berufen oder ihre Überzeugungen auf eine grundsätzliche Anthropologie gründen: Der Mensch als »der tragisch Seiende«, genauer: der Mann, wie Benn ihn sah. Waren >Juden< oder >Neger< nicht mitgemeint? Und Frauen? – Für Brecht war dies reine Ideologie und deshalb nicht diskussionswürdig. Gerade bei den >Juden<, die die Nazis erst >dazu< gemacht hatten (denn mit ihrer Religion hatte der Begriff nichts zu tun), schleppte das christliche Abendland eine Geschichte der Unterwerfung und Erniedrigung mit sich, die nicht menschenverachtender sein konnte und die die Nazis grausam ausschlachteten; buchstäblich. Brecht klinkte sich da nicht ein, mit den besten Gründen. Unmittelbar nach seiner Flucht entwarf Brecht ein Selbstinterview, das mit der Frage begann: »Sind Sie Jude? – Nein. – Warum stehen Ihre Bücher als undeutsch auf der schwarzen Liste? – Die Nationalsozialisten halten nur einen Teil aller Deutschen für Deutsche. Diejenigen, welche über die soziale Frage eine andere Ansicht als Herr Hitler haben, halten Sie ganz allgemein für undeutsch. Und ich habe ebenso wie viele Millionen Deutscher über die soziale Frage eine andere Ansicht als Herr Hitler.« Brecht nahm das >Thema< in der Form, das die Nazis ihr gegeben hatte, nicht an, weil er sich auch nicht ex negativo auf das peinliche Niveau seiner Verfolger herablassen wollte. Von daher überwogen bei Brecht satirische Texte; denn dieser Rassenwahn der Nazis, wobei auch schon zu erwägen wäre, was denn >rassisch< an den Juden, die in erster Linie eine Religionsgemeinschaft bilden, sein soll, war nur in seinen realen Wirkungen, nicht aber als Ideologie ernst zu nehmen. Deshalb bot Brecht Texte an, die die hirnrissigen Argumente der Nazis im Hinblick auf die Juden total ad absurdum führten, so die folgende Satire, die er im Kontext der Deutschen Satiren (1937), die über den Rundfunk ausgestrahlt wurden, formulierte:
Wenn die Juden es ihm nicht abrieten Würde der König von England unserm Kanzler sein indisches Reich zeigen und sagen: Bedienen Sie sich, bitte. Und lange schon Hat die französische Kammer den einzigen Wunsch, unserm Kanzler Dessen Schnurrbart ihr so sehr gefällt, die lothringischen Erzgruben zu schenken Aber die Juden verbieten es ihr. Bevor der Führer es uns sagte, ahnten wir nicht Was für ein kluges und mächtiges Volk die Juden sind. Obgleich nur wenige Leute und noch dazu zerstreut über die ganze Erdoberfläche Beherrschen sie doch anscheinend alles durch ihr Genie. Auf ihr leisestes Pfeifen Legt sich der britische Löwe auf den Rücken und wedelt mit dem Schweif Das gewaltige New York, aufragend bis zum Himmel, fürchtet sein Brauenrunzeln mehr als ein Erdbeben Und der Papst frißt ihm aus der Hand. Unter diesen Umständen fragt sich alle Welt schaudernd Was dem Erdball geschehen wäre Wenn der Führer sich für seine großen Pläne Anstatt das bescheiden begabte deutsche Das jüdische Volk auserwählt hätte.
Die zunehmenden Wirrnisse, die, wie angedeutet, die Fronten unter den Antifaschisten entweder ver- härteten oder so verwischten, dass die Grenzen unsichtbar wurden und eine Volksfront verhinderten, ließen die Hoffnungen, dass die Faschisten in Deutschland in absehbarer Zeit noch zu beseitigen wären, weiter sinken. Im Gegenteil: Während die Nazis laut ihren absoluten Friedenswillen in die Welt brüllten und die Olympiade von 1936, die schon 1931 nach Berlin vergeben worden war, erfolgreich in ihr Propagandaprogramm einbauten, wur- den gleichzeitig neue Rüstungsprogramme (»Gesetz über den Aufbau der Wehrmacht« vom 16. März 1935) aufgelegt, die allgemeine »Wehrpflicht« am 1. Oktober 1935 ein- geführt und neue KZs errichtet, wie das während der Sommerspiele von Häftlingen in Zwangsarbeit gebaute KZ Sachsenhausen (Oranienburg), wo es seit 1933 ein weiteres KZ gab. Und nicht zu vergessen: Als die ersten Olympiateilnehmer in Berlin eintrafen, verlegte Hitler die ersten Staffeln der Legion Condor nach Spanien, der Todesschwadron, die im Spanischen Bürgerkrieg den Weltkrieg >probte< und nicht nur Guernica und seine Bewohner verwüstete. Das war am 31. Juli 1936; am folgenden Tag begannen die >friedlichen< Olympischen Spiele in Berlin (bis 16. August). Im ersten Halbjahr 1936 begann Brecht sein Projekt einer Deutschen Kriegsfibel zu entwerfen, wobei er Gedichte und Gedichtentwürfe, die 1937 nicht in den Erstdruck im Wort eingingen und auch in den Svendborger Gedichten nicht berücksichtigt wurden, mit der Jahreszahl »36« versah, um deutlich zu markieren, ab wann er spätestens damit gerechnet hatte, dass Hitler den gewiss kommenden Krieg längst als Ziel in seiner angeblichen Friedens-Politik fest verankert hatte. Ein Gedicht ist überschrie- ben Auf ein Stadion und zweifellos gemünzt auf den Neubau des Olympiastadions (seit 1934) mit dem »Reichssportfeld« für Nazi-Aufmärsche. Brechts Verse lauten:
Dieses Stadion, erbaut Aus dem Volk gestohlenen Geldern Soll dienen Der Ertüchtigung der Mörder Schneller laufen Sollen die Diebe Höher springen die Denen der Boden unter den Füßen zu heiß geworden ist.
Wie nicht nur in diesem Fall waren offenbar die deutschen Emigranten über die wahren Vorgänge in Deutschland besser informiert als die Deutschen selbst, aber auch besser als die Ausländer, die sich immer wieder blenden ließen und damit Hitlers Politik (ungewollt) unterstützten. Brechts Anspielung auf die »gestohlenen Gelder« verweist auf die Tatsache, dass die Nazis die Finanzierungslücken beim Stadionbau mit Mitteln aus dem (als sozial propagierten) Arbeitsbeschaffungsprogramm stopften. Natürlich ging es Hitler nicht um die friedlichen Spiele, sondern um die weltweite inszenierte Konsolidierung seiner Macht, letztlich um die allge- meine und internationale Anerkennung seines Friedenswillens. Und alle flogen drauf rein. Der Aufruf der Konferenz zur Verteidigung der Olympischen Idee am 6. und 7. Juni 1936 in Paris, sozusagen ein Versuch in letzter Minute, das Wahnsinnsunternehmen im faschistischen Deutschland zu stoppen, half nichts mehr, obwohl Heinrich Mann starke Worte fand: »Ein Regime, das sich stützt auf Zwangsarbeit und Massenversklavung; ein Regime, das den Krieg vorbereitet und nur durch verlogene Propaganda existiert, wie soll ein solches Regime den friedlichen Sport und freiheitlichen Sportler respektieren? Glauben Sie mir, diejenigen der internationalen Sportler, die nach Berlin gehen, werden dort nichts anderes sein als Gladiatoren, Gefangene und Spaßmacher eines Diktators, der sich bereits als Herr dieser Welt fühlt.« Dass dem auch so war, be- wiesen die Gestapo-Schergen, die zur Überwachung des olympischen Dorfs offenbar >erfolgreich< eingesetzt waren, und die die Regeln des IOC missachtenden politischen Demonstrationen Hitlers als >Bestandteil< der Spiele. Nach dem Krieg – Wie umgehen und wie eine Sprache finden? Brecht reagierte mit einer Neuauflage seiner Deutschen Satiren aus den Svendborger Gedichten, der Gedichtform, welche die Exzesse der Nazi-Propaganda aufs Korn nahm und sie satirisch in ihre kenntlichen Teile zerlegte. Ende 1945 (schon) schrieb er Der Krieg ist geschändet worden:
Wie ich höre, wird in den besseren Kreisen davon gesprochen Daß der zweite Weltkrieg in moralischer Hinsicht Nicht auf der Höhe des ersten gestanden habe. Die Wehrmacht Soll die Methoden bedauern, mit denen die Ausmerzung Gewisser Völker von der SS vollzogen wurde. Die Ruhrkapitäne Heißt es, beklagen die blutigen Treibjagden Die ihre Gruben und Fabriken mit Sklaven füllten. Die Intelligenzler Hör ich, verdammen die Forderung nach Sklavenarbeitern von seiten der Industriellen, sowie die gemeine Behandlung. Selbst die Bischöfe Rücken ab von dieser Weise, Kriege zu führen. Kurz, es herrscht Allenthalben jetzt das Gefühl, daß die Nazis ihnen Leider einen Bärendienst erwiesen und daß der Krieg An und für sich natürlich und notwendig, durch diese Über alle Stränge schlagende und geradezu unmenschliche Art, wie er diesmal geführt wurde, auf geraume Zeit hinaus Diskreditiert wurde.
Wie wäre es gewesen, wenn die Deutschen nach dem 2. Weltkrieg die Friedenstaube Piscassos statt des Adlers als Wappentier und nationales Symbol gewählt hät- ten? Auch die zweite Chance nach der Wende von 1989 wurde vertan. ◄◄◄
(Es folgt: die preisgekrönte Kurzgeschichte in der Zeitung; weiterlesen: GBA 19.)
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Brecht-Weill-Koch 1927
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BRECHTLEBTDOKU 09.November 2021
Es geht also weiter – und die bundesdeutschen Beauftragten gegen Antisemitismus ignorieren weiterhin oder schon wieder? Eine aktuelle Kalendergeschichte von Jan Knopf
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