BRECHTLEBTBRECHTIANA 07. Februar 2023
Bert Brecht und das Radio – Anlässlich seines 125. Geburtstages:
„Jeder Empfänger kann heute auch Sender sein.“
Wer heute über das Internet die Suchbegriffe „Brecht“ und „Radio“ eingibt, erhält lauter Links mit „Radiotheorie“ und erfährt: „Brechts Vision eines dialogischen ‚Radios‘ ist heute durch das WWW kommunikativer Alltag geworden“. Das wäre 1930 gewesen, als Brecht beim Südwestdeutschen Rundfunk das geflügelte Wort prägte: „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln.“ Auch die „Bundeszentrale für politische Bildung“ lässt verlauten, es gäbe heute Brechts „Medien-Rückkanal“: „Jeder Empfänger kann heute auch Sender sein“. Das war 2013. Bertolt Brecht, der deutsche Pionier des WorldWideWeb?
Baden-Baden, Ende Juli 1929. Als „künstlerisches Locarno“ versammelte sich die Crème der internationalen Neuen Musik zur „Kammermusik Baden-Baden“ unter dem Titel „Originalmusik für Rundfunk“. Es galt, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk vor der Banalität und vor dem Zugriff der Nazis zu retten. Die Leitung teilten sich Hans Flesch, der die „Reichs-Rundfunk-Gesellschaft“ (RGG) vertrat, und Paul Hindemith, der als künstlerischer Leiter zeichnete. Der Rundfunk war noch keine fünf Jahre alt und schon in einer tiefen Krise. Hans Flesch konstatierte: „Entsetzliche Dinge wurden getrieben. Das Musikprogramm wurde aus vermoderten Konzertsälen bezogen, Literatur aus der Gartenlaube, der Vortragsstil legte Wert auf die Sitten und Gebräuche der Minnesänger (unter dem Titel Volksbildung), Legionen von Gurken wurden eingelegt (Für die Hausfrau).“ Brecht se- kundierte: „Man konnte in diesem akustischen Warenhaus lernen, auf Englisch bei den Klängen des Pilgerchors Hühner zu züchten, und die Lektion war billig wie Leitungswasser.“ Kurt Weill, damals Redakteur der Zeitschrift Der Deutsche Rundfunk, bot in einem Leitartikel vom Juni 1925 als Abhilfe an: Besänne sich der Rundfunk auf seine „Eigenwerte“, die „ihm alleine gehören“, könnten diese „zu einer besonderen Gattung von Kunst heranreifen“. Mit dem Mikrophon, das „ein Heer neuer, unerhörter Geräusche auf künstlichem Wege“ erzeuge, ließe sich „ein absolutes, über der Erde schwebendes, seelenhaftes Kunstwerk“ hervorbringen, losgelöst von jeglicher Nachahmung, die bis dahin für Kunst als verbindlich galt.
Kurt Weill, damals Redakteur der Zeitschrift Der Deutsche Rundfunk, bot in einem Leitartikel vom Juni 1925 als Abhilfe an: Besänne sich der Rundfunk auf seine „Eigenwerte“, die „ihm alleine gehören“, könnten diese „zu einer besonderen Gattung von Kunst heranreifen“. Mit dem Mikrophon, das „ein Heer neuer, unerhörter Geräusche auf künstlichem Wege“ erzeuge, ließe sich „ein absolutes, über der Erde schwebendes, seelenhaftes Kunstwerk“ hervorbringen, losgelöst von jeglicher Nachahmung, die bis dahin für Kunst als verbindlich galt. Weills Theorie der „absolute Radiokunst“ setzte Hans Flesch am 27. Juli 1929 mit dem Lindberghflug von Brecht-Hindemith-Weill“ (so die Anzeige) in den „Kleinen Oberen Sälen“ der Kurhauses von Baden-Baden um. Um 17.30 Uhr, vor dem Dinner, setzte Flesch die erstaunten Besucher in fünf Räumen an leere Tische und präsentierte ihnen über Lautsprecher das „audiophone“ Kunstwerk mit Musik, Gesang und Ansage. Zu ge- währleisten war, dass unter der „absoluten Ausschaltung der Optik“ der Inhalt „restlos aus dem Gehörten“ hervorging. Hans Flesch hatte schon im Herbst 1928 Brecht als geeigneten Textdichter für sein Experiment verpflichtet und aufgrund der erfolgreichen Kooperation mit der Dreigroschenoper Kurt Weill als Komponisten vorgesehen. Funkgerecht wählte Brecht die noch frische Sensation des ersten Ozeanflugs vom Mai 1927 zum Inhalt, entwarf einen inneren Monolog zu den 33 Flugstunden Lindberghs und setzte für die einzelnen Szenen einen Ansager ein. Ende März 1929 erschien im Monats-Magazin Uhu Brechts Text unter der Titelei: „Lindbergh. Ein Radio-Hörspiel für die Festwoche in Baden- Baden. Mit einer Musik von Kurt Weill“. Das Stück simulierte eine Live-Überragung aus dem Flugzeug Lindberghs und spiegelte in ihm zugleich die Apparatur des Radios wider: »steig ein« sind die ersten Worte des Ansagers als Aufforderung an die Hörer, die Kämpfe Lindberghs mit den Naturgewalten als Hörer nachzuvollziehen und dabei zu- gleich die technische Leistung des Radios zu beachten, die das Geschehen übermittelt, als ob „man dabei“ wäre. Im April 1929 einigten sich Brecht und Weill, Paul Hindemith als künstlerischen Leiter des Festivals an der Komposition von Der Lindberghflug (so der Titel 1929) zu beteiligen.
Wie Brecht erwartet hatte, stieß die „audiophone“ Uraufführung des Lindberghflugs auf Reaktionen zwischen Ratlosigkeit und Hohn. Der Kritiker von The Musical Times (London) nannte sie „the perfect picture of a Barmecide feast“, zu Deutsch: Vorspiegelung großzügiger Gastlichkeit, oder: groß gemeint, aber nichts dahinter. Flesch wiegelte später ab: „Das Ergebnis war nicht überraschend gut“, der Lindberghflug jedoch habe „immerhin einen wesentlichen Gewinn für den Rundfunk“ bedeutet. Das war nicht der Fall. Dieser Lindbergh blieb „einzigartig“ in seiner „Arteigenheit“ und könnte als das Kuriosum in die Musik- und Literaturgeschichte ein- gehen, wenn es denn – was ich hiermit versuche – endlich bekannt würde. Hinter Fleschs und Hindemiths Rücken veranstaltete Brecht bei identischer Besetzung sein Lindbergh-Experiment. Er sagte die im Programm vorgesehene Generalprobe für die Uraufführung ab, stellte am Folgetag im großen Saal des Kurhauses die technische Apparatur („Radio“) mit allen Beteiligten (Menschen, Instrumenten, Maschinen mit Kabeln und Drähten) auf ein Podium und führte so den Ablauf von „Rundfunk“ zwischen Sender und Hörer („Lindbergh“) mit dem Mikrophon als „Mittler“ direkt vor. Das „Bauhaus“ hatte es vorgegeben: Alle Technik verschwand unter dem glatten Beton und zeigte nurmehr ihr Funktionieren. So wirkte auch das neue Medium Radio wie „Magie“, das auf einmal die „unverletztlichen Wohnungen“ des Bürgertums regelrecht heim- suchte und erstaunlich schnell dort heimisch wurde, ohne dass jemand kapierte, was da vorging. Brecht machte mit seiner Version der Uraufführung diese „eigentliche, in die Funktionale gerutschte Realität“ sichtbar. Aber auch das verstand niemand. So blieb auch dieser Versuch einmalig. Dass Brecht 1929 für die RRG wichtig wurde, hatte Vorlauf. Neben der Gartenlaube gab es gelegentlich nachhaltigere Literatur-Sendungen im Radio, Als Singer-Songwriter hatte Brecht daran wesentlichen Anteil. So entdeckte Kurt Weill in einer Silvester- Revue 1926 über Carola Nehers Gesang „das vorzügliche Jenny-Lied von Bertolt Brecht“ und schrieb schon im März 1927 in seiner Zeitschrift von der „ungemein packenden Wirkung“, die das Hörspiel Mann ist Mann von eben diesem Brecht ausstrahlte und so einen „denkwürdigen Abend für die Entwicklung des deutschen Sendespiels“ markierte.
„Man konnte in diesem akustischen Warenhaus lernen, auf Englisch bei den Klängen des Pilgerchors Hühner zu züchten ..“
Funkgerecht wählte Brecht die noch frische Sensation des ersten Ozeanflugs vom Mai 1927 ..
Rundfunkpioniere Weill, Brecht, Flesch: „.. zu einer besonderen Gattung von Kunst heranreifen“.
Arno Schirokauer ging weiter: Er wisse „seit diesem Abend, dass man einen Film hör- spielen kann. Brecht hat einen exzellenten Film geschrieben, und Braun [Alfred B., der Regisseur] hat fast ein Hörspiel daraus gemacht“. Die Inszenierung war so erfolgreich, dass sie noch drei Nachfolger im Radio verzeichnete (1927, 1929 und 1930). Sie er- reichte somit – es gab in Deutschland inzwischen 3 Millionen Radioapparate –, ein un- vergleichlich größeres Publikum als die Dreigroschenoper. Erst nach diesen unvermuteten Anstößen durch den Rundfunk entdeckte Weill den Brecht für sich. Es waren die Lieder der Hauspostille und Brechts Mahagonny-Kompositionen die im August 1928 zum gemeinsamen Dreigroschen-Welthit führten. Von da ab beginnen die weithin bekannten Geschichten des ungleichen Paars und der Verwertung ihrer Songs im Radio und auf Schallplatten. Aber auch sie müssten wohl über den Rundfunk und BB neu geschrieben werden – wie auch der Mythos vom Web- Pionier Brecht, der unter Kommunikation etwas ganz anderes verstand als die WWW- User heute: „Von den Antennen kamen die alten Dummheiten. / Die Wahrheit wurde von Mund zu Mund weitergegeben.“
Arno Schirokauer ging weiter: Er wisse „seit diesem Abend, dass man einen Film hörspielen kann.
Prof. Dr. Jan Knopf
„Uhu“-Titelei zum Hörspiel: „Lindbergh. Ein Radio-Hörspiel für die Festwoche in Baden-Baden. Mit einer Musik von Kurt Weill“
BRECHTIANA Brechts Epische Musterszene
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