»Brecht muß den Musiker besonders anregen und fesseln. Er ist ein Volkssänger im Zeitalter des Wolkenkratzers, der eben nur das Pech hat, kein aufnahmefähiges Volk oder Publikum hinter sich zu haben. Denn sonst wäre manches von Brechts Gesängen, sicher aber seine Legende vom toten Soldaten längst Allgemeingut des Volkes. Während wir emsig auf der Suche nach neuen und alten, am liebsten aber ältesten Volksliedern sind, liegen hier zeitge- bundene Lieder vor. Daß ein Komponist auf die Texte Brechts stoßen mußte, war vorauszuse- hen. Kurt Weill, zeitgemä- ßer Musiker, Schöpfer von bühnenwirksamen Opern, aufnahmebereit für die Ideenwelt der Dichter, ist der glückliche Finder. Was Brecht er- fand, deutet er klanglich mit großem Geschick aus; das eigentlich Schöpferische liegt in die- sem Fall aber beim Dichter, nicht beim Musiker.«
»Volkssänger im Zeitalter des Wolkenkratzers«
(Eberhard Preußner, Berlin, Wien; Komponist und Musikkritker: Die Musik, XIX/12, September 1927)
Bob Dylan 1961 im Theatre de Lys (New York 10014): Dylan hört zum ersten Mal Die Seeräuber-Jenny, das >›gemeine Lied‹, den ›wil- den Song‹. In der Adaption der Threepenny Opera von Marc Blitzstein sang das Lied eine ›etwas maskuline Frau im Gewand einer Putzfrau‹ [Lotte Lenya], das ›war wie Picassos Gemälde Guernica. Dieser große Song sprach alle meine Sinne auf ganz ungewohnte Weise an….‹ Dylan widmete allein dieser >atemberaubenden Ballade< über fünf Seiten seiner Chronicles, weil er sich von ihr >sofort in Bann< schlagen ließ: >Die Stelle [>Hoppla<] erinnerte mich an die Nebelhörner der Schiffe, die ich in meiner Jugend gehört hatte, [...] klangen nach großer Verheißung, [...] ihr schwe- rer Donner grollte wie Beethovens Fünfte<. Dem >Geheimnis< auf die Spur zu kommen, das dem Song >seine Spannung und seine unverschämte Gewalt ver- lieh<, sollte von da ab – >ich war noch gar kein Songwriter< – der entschei- dene Stachel für sein künfti- ges Schaffen sein. 50 Jahre später erhielt Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur.
„Und dann werden Sie mich sagen hören: Alle! Und wenn dann der Kopf fällt, sag ich: Hoppla! Und das Schiff mit acht Segeln Und mit fünfzig Kanonen Wird entschwinden mit mir.“ Bob Dylan: Chronicles. Volume One. Übers. v. Kathrin Passig und Gerhard Henschel. Hamburg: Hoffmann und Campe 2004, S. 284f.
Carola Neher sang »Die Seeräuber-Jenny« erstmals über den Rundfunk am 31. Dezember 1926, Silvester, in der Sendung »Larifari« der Berliner Funk-Stunde in der Komposition von Bertolt Brecht, arrangiert von Franz Xaver Bruinier (geschätzte Hörerzahl 800.000):
Kurt Weill rezensierte als Redakteur der damals füh- renden Radio-Zeitung Der Deutsche Rundfunk die Sendung in der Nummer 2 vom 9. Januar 1927 (S. 86): »>Larifari 1926< ließ in flott gespielten, witzigen Hörbildern Ereignisse des vergangenen Jahres an un- serem Ohr vorbeiziehen. Der Hauptanteil am Gelingen fiel Alfred Braun zu –als Regisseur und Darsteller des >Mr. Alltag<. Ihm zur Seite Helene Weigel als >Erinnerung<, Antonie Straßmann als >Geschichte< […]. Carola Neher trug das vorzügliche Jenny-Lied von Bertolt Brecht in der Vertonung von F. Bruinier vor.«
Ernst Bloch, 1929 (Lied der Seeräuber-Jenny in der Dreigroschenoper, in: Der Anbruch, Wien 1929, S. 125-127) »Im Weill-Brecht-Land macht sich aber nicht nur die Frömmigkeit gemein, sondern die Blasphemie rechtgläubig. Der himmlische Bräutigam erscheint der Schubertschen Nonne, die hier Seeräuber-Jenny ist, als Pirat, und das Hoppla ist so apokalyptisch wie man nur will.«
Bob Dylan wurde 1941 geboren; Bertolt Brecht adaptierte 1920 den Begriff »Song« für die deutsche Sprache, als er den »Civilis-Song« nach den Mustern der damaligen Coon-Songs, die nach dem 1. Weltkrieg aus den USA importiert wurden, komponierte und seinen Freunden zur Klampfe vorsang. Mit seinem damaligen Kompagnon Klabund, der später Carola Neher heiratete, zog er durch die Kneipen Münchens als die ersten Songwriter in Deutschland. Sie begründeten eine neue Form der po- pulären Musik, kurz: die musikalische Pop Art, bevor die Unterhaltungsindustrie sich des Genres bemächtigte. Wie für fast alles gilt: Die Begriffe folgen erst, wenn die Sache sich durchgesetzt hat. Nach Bob Dylan gab es den Begriff »Songwriter« 1961, als er nach Greenwich Village zog, noch nicht einmal in den USA: »Man 3ar Musiker oder man war keiner, das war’s … man war Folksänger oder eben nicht« (Chronicles, S. 87). Klabund dichtete schon 1913 in damals unerhörten Tönen und bekam prompt eine Strafanzeige des Berliner Kammergerichts wegen Blasphemie: Es hat ein Gott mich ausgekotzt, Nun lieg ich da, ein Haufen Dreck, Und komm und komme nicht vom Fleck. Doch hat er es noch gut gemeint, Er warf mich auf ein Wiesenland, Mit Blumen selig bunt bespannt. Ich bin ja noch so tatenjung. Ihr Blumen sagt, ach, liebt ihr mich? Gedeiht ihr nicht so reich durch mich? Ich bin der Dung! Ich bin der Dung! Die Strafkammer befand, dass das Lied die >Grenzen der Kunst überschritten< habe und verdonnerte den Poeten zu einer Geldstrafe. Brecht versuchte mitzuhalten und dichtete solche Verse wie diese erste Strophe seines »Civilis- Songs«: Grün war unser Dschungel Trocken unsre Kraal Aoh! Aoh! Unsere Nabel träuften Von die Fett einmal. Aoh! And because bei uns Es grün und trocken war Kam one day das Schnapsverkäufer Und das Missionar. Oah oah! Bum! Unsere feine trockne Kraal kaputt kaputt! Weiße Missionar verkauft für Glock und Gin Schwarze Mann kann drink wie Nilpferdpott Weiße Mann kann drink wie Nilpferdpott Mit Loch darin. In eigener Sache: Wir haben großes Interesse daran, dass diejenigen, die Brecht vor allem als einen Ideologen, Lehrmeister und Frauenverbraucher ansehen und sich an diese Ansicht gewöhnt haben, Stolpersteine auf ihren Wegen vorfinden, die das Geläufige mit ein wenig mentalen Widerstand ver- sehen und zugleich mit sprachlichem Schwung die Stimmung auflockern. Da wir neuen metaphysischen Zeiten entgegengehen, die es Menschen ermöglichen, so viel Reichttum zu >erwerben< (Werbung), dass sie einerseits den >gemeinen Leuten< (nicht nur den >Unterleuten< von Juli Zeh) buchstäblich das Wasser abgraben und zugleich ins >All< abdampfen (wie Elon Musk) oder mit dem >Metaverse< ein weiteres Allerlei gründen (wie Mark Zuckerberg), grei- fen wir auf die klassische Antike zurück und erwecken die Toten. Wir rufen in die Gruft, damals Hades genannt, wo die Toten nicht ruhen, sondern als Schatten wandeln, also digital weiterleben. Sie sind folglich jederzeit abrufbar. Also setzen wir den BB in den Charon und schiffen ihn hinein in sein, genauer in Berties Metaversum und versprechen Kurzweil in allen Lagen, nicht nur diesen, sondern auch jenen: des politischen Alltags; es gibt noch viel zu sagen…. Die neue Rubrik heißt Berties Metaversum; zu haben ab 12/2021 in diesem Blog.
Bob Dylan: Chronicles. Volume One. Übers. v. Kathrin Passig und Gerhard Henschel. Hamburg: Hoffmann und Campe 2004, S. 284f.
Montage aus dem Fotobuch: Daniel Kramer. Bob Dylan. Ein Jahr und ein Tag
..und dann die "Seeräuber Jenny" hörte- Dylan: "Es ist ein wilder Song. Der Text ist harter Tobak. Da geht es heftig zur Sache. Jeder Satz springt einen aus drei Metern Höhe an und huscht über die Straße. Dieser große Song sprach alle meine Sinne auf ganz ungewohnte Weise an.."
Auf Dylans Spuren Singer - Songwriter Wolfgang Niedecken setzt mit seiner aktuellen Tournee die Tradition fort: Brecht (of the Juke Box) - Dylan - Bap."
BRECHTLEBTBRECHTIANA 24. November 2021
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