»Ich dachte lange darüber nach, wie diese Geschichte heißt. Aber dann wußte ich, daß sie >Barbara< heißt. Ich gebe zu, daß Barbara selber nur ganz am Anfang vorkommt und die ganze Geschichte hindurch in viel zu schlechtem Lichte dasteht, aber die Geschichte kann gar nicht anders heißen als >Barbara<.
Edmund, genannt Eddi, 200 Pfund schwer, Melancholiker, tat sehr unrecht, mich abends neun Uhr, nur weil wir ein paar Kurfürstendamm-Cocktails zusammen geschluckt hatten und sein Chrysler vor der Bar stand, in die Lietzenburger Straße 53 zu Barbara mitzunehmen, obwohl er wissen mußte, daß Barbara eine >sehr wichtige Unterredung mit einem Kabarettdirektor< hatte.« (GBA 19,280; bitte dort weiterlesen) Das ist nicht BARBARA: Barbar(a) ist abgeleitet von Altgriechisch: βάρβαρος bárbaros und bezeichnete in der Antike diejenigen, die nicht (oder schlecht) Griechisch sprachen (wörtlich: Stammler, Stotterer). Später wurde die Bedeutung übertragen auf alle >Völker<, die, weil sie die Sprache nicht beherrschten, als nicht gebildet, als >kulturell niedrig< (doof, ungehobelt, unsittlich und so weiter) eingestuft und deshalb auch als >Menschen niederer Sorte< (bei den Nazis: >Art<) behandelt wurden. Wikipedia belehrt uns: »Im modernen Sprachgebrauch wird der Begriff abfällig in der Bedeutung >roh-unzivilisierte, ungebildete Menschen< verwendet. Der Begriff >Barbar< […] bzw. >Barbarentum< dient seit Beginn der Antike innerhalb eines helleno- bzw. ethnozentrischen Weltbildes als abgrenzende und abwertende Bezeichnung für die Andersartigkeit fremder Kulturen, seien sie in regionaler […] oder weltanschaulicher (Juden, Christen, >Heiden<) Distanz. Parallel dazu geht eine stark rhetorisch-propagandistisch aufgeladene Verwendung des Begriffs […].« Das auch nicht. Das ist keine Produktplatzierung, sondern schlicht und ungesetzlich Schleichwerbung. Der schnellste Sportwagen der Welt: BMW 1944 Eine hervorragende Leistung der deutschen Kraftfahrt-Durch-Freude-Industrie! Wohlgeformt und angriffslustig. Wir halten mit und durch. Aus der »Dreigroschenoper« (Erstdruck 1928) (Song-Beleuchtung. Auf den Tafeln erscheint: Durch ein kleines Lied deutet Polly ihren Eltern ihre Verheiratung mit dem Räuber Macheath an.) NR. 9. BARBARA-SONG Einst glaubte ich, als ich noch unschuldig war, Und das war ich einst grad sowie du – Vielleicht kommt auch zu mir einmal einer, und dann muß ich wissen, was ich tu. Und wenn er Geld hatte, Und wenn er nett war, und sein Kragen ist auch werktags rein, Und wenn er wußte, was Sich bei einer Dame schickt, Dann sagte ich ihm: »Nein«. Da behält man seinen Kopf oben Und man bleibt ganz allgemein. Sicher schien der Mond die ganze Nacht, Sicher wird das Boot am Ufer festgemacht Aber weiter kann nichts sein. Ja, da kann man sich doch nicht nur hinlegen, Ja, da muß man kalt und herzlos sein. Ja, da könnte so viel geschehen, Ach, da gibt‘s überhaupt nur: Nein Der erste, der kam, war ein Mann aus Kent, Der war, wie ein Mann sein soll. Der zweite hatte drei Schiffe im Hafen, Und der dritte war nach mir toll. Und als sie Geld hatten, Und als sie nett waren, Und ihr Kragen war auch werktags rein, Und als sie wußten, was Sich bei einer Dame schickt Da sagte ich ihnen: »Nein«. Da behielt ich meinen Kopf oben, Und ich blieb ganz allgemein. Sicher schien der Mond die ganze Nacht, Sicher war das Boot am Ufer festgemacht, Aber weiter konnte nichts sein. Ja, da kann man sich doch nicht nur hinlegen, Ja, da mußt‘ ich kalt und herzlos sein. Ja, da könnte doch viel geschehen, Ach, da gab‘s überhaupt nur: Nein. Jedoch eines Tags, und der Tag war blau, Kam einer, der mich nicht bat, Und er hängte seinen Hut an den Nagel in meiner Kammer, Und ich wußte nicht, was ich tat. Und als er kein Geld hatte, Und als er nicht nett war, Und sein Kragen war auch am Sonntag nicht rein, Und als er nicht wußte, was Sich bei einer Dame schickt, Zu ihm sagte ich nicht »Nein« Da behielt ich meinen Kopf nicht oben, / Und ich blieb nicht allgemein. / Ach, es schien der Mond die ganze Nacht, / Und es ward das Boot am Ufer losgemacht, / Und es konnte gar nicht anders sein. Ja, da muß man sich doch einfach hinlegen, Ja, da kann man doch nicht kalt und herzlos sein! Ja, da mußte so viel geschehen, Ja, da gab‘s überhaupt kein Nein. (= Der Barbara-Song; GBA 11,138f.; Carola Neher in Pabsts Film von 1931) »Der Song dient im Theaterstück als Pollys Rechtfertigung vor ihren Eltern; auf der dazu gezeigten Tafel steht: >Durch ein kleines Lied deutet Polly ihren Eltern ihre Verheiratung mit dem Räuber Macheath an.< Der Titel [des Songs] wird nicht angezeigt; der Name >Barbara< kommt ja weder in der >Dreigroschenoper< vor, noch wird er überhaupt im Lied erwähnt. Es muß wohl in anderem (noch unbekanntem) Zusammenhang gestanden haben; da er durch die Aufnahme in das Theaterstück auf- gehoben ist, ließ Brecht den Titel fallen und beschränkte sich mit der oben genannten Ankündigung oder wählte den neuen Titel >Der Song vom Nein und Ja<«. (Fritz Hennenberg: Das große Brecht-Liederbuch. 1984, S. 394) Notenhandschrift von Franz S. Bruinier mit dem Titel »Barbara Song«; Bruinier zeichnete handschriftlich für das Arrangement von Brechts Melodien. Titel und die Signierung der Noten stammen von Brechts Hand. Nach dieser (in der Forschung übersehenen) Überlieferung ent- stand das vorliegende Dokument 1926 (Mai), eventuell schon Ende 1925, als Bruinier mit den ersten Arrangements der Brecht’schen Melodien begann. Kurt Weills >Komposition<, die als neues Arrangement zu qualifizieren ist, beruht auf diesen Vorgaben und ist nicht selbstständig. »BARBARA-SONG: Das Gedicht entstand 1927 noch vor der Dreigroschenoper und wurde von Franz. S. Bruinier mit einer Melodie Brechts aufgezeichnet (vgl. Hennenberg 1984, S. 374-376). Der Name >Barbara< hat keine inhaltl. Bedeutung für die Dreigroschenoper und ist nur durch die Übernahme des schon vorhandenen Gedichts zu erklären. Es trägt auch den Titel >Die Ballade vom Nein und Ja< (s. GBA 11, S. 342).« (Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper. Der Erstdruck 1928. Mit einem Kommentar von Joachim Lucchesi. Frankfurt a.M. 2004. SBB 48, S. 165) Anmerkung: Nach dem Blatt BBA 249/60 besteht folgendes factum brutum: Brechts Melodie lag spätestens 1926 vor, nach Brechts üblichem Verfahren, die Lieder zur Klampfe zu >improvisieren<, meist nach Vorbildern, arrangiert und eventuell auch in Brechts eigen - williger Notenschrift (Kreuze) fixiert. Brecht übergab oder sang vor Bruinier seinen Song, der ihn in die professionelle Notenschrift übertrug und arrangierte. BB lernte Bruinier im November 1925 kennen. Von da ab ist für das Jahresende sowie für das Frühjahr 1926 eine erste intensive Phase der Zusammenarbeit anzusetzen, nachgewiesen mit dem »Surabaya-Johnny«, den Brecht im Frühjahr 1926 in das Feuchtwanger-Stück Kalkutta 4. Mai einfügte. Da die »Seeräuber-Jenny« ähnlich überliefert ist und nachweislich zu Silvester 1926 im Radio zu hören war gesungen von Carola Neher –, dürfte die Entstehung des »Barbara Songs« ebenfalls für diese Zeit anzusetzen sein. Dass die Übernahme des Songs in die Oper >nur< durch sein >Vorhandensein< zu erklären sei, wi - derlegt diese DigIcone (Digi+Icone), die Sie, geneigte Leserin hoffentlich gerade zur Kenntnis nehmen (wenn nicht, wissen Sie nicht, was Ihnen entgeht). Hochzeitsszene in »Die 3Groschenoper« (Film von G.W. Pabst, Tobis 1931): Polly, genauer: Carola Neher singt als Polly den »Barbara-Song«, nicht mehr, um ihre Eltern zu unterrichten, sie habe einen Gangster geheiratet, sondern um an - zudeuten, dass sie mit den Gangstern mithalten kann: die Frau wird >ihren Mann< stehen. »Der Barbara-Song] Entstehung: Frühjahr 1927 (unabhängig von der Oper). In der Dreigroschenoper wird der Song als >ein kleines Lied< bezeichnet, hat aber keinen Titel. Polly rechtfertigt mit ihm ihre Heirat mit Mackie Messer. Er geht als Lied der Polly Peachum in den Dreigroschenroman (Motto zum 1. Kapitel) und Die Ballade vom Nein und Ja in die Ausgabe der Songs von 1949 ein. Im Dreigroschenfilm, Die Beule, sollte er gegen die Seeräuber-Jenny ausgetauscht werden.« (Kommentar, GBA 11,342) Anmerkung: Da die GBA aufgrund von Sabotage in Band 2 = Stücke 2 falsche Textgrundlagen gewählt sowie die Entstehungszeiten der beiden zentralen Opern des 20. Jahrhunderts vertauscht hat, bezieht sich der voranstehende Kommentar auf die Textgrundlage der GBA (den »Versuche«-Druck der Oper von 1931), in der der Titel des Songs getilgt ist. Im Erstdruck von 1928 ist der »Barbara Song« mit Titel erhalten und mar - kiert die Headline als Nr. 9 der dortigen Szenenfolge. Brecht hat folglich den Namen >Barbara< gezielt eingesetzt. Für den Dreigroschenfilm, als Treatment »Die Beule« überliefert (GBA 19,307-320), strich Brecht die »Seeräuber Jenny« ganz und rückte da die Hochzeit jetzt öffentlich und als >gesellschaftliches Ereignis< gefeiert wird den »Barbara Song« an ihre Stelle. In G.W. Pabsts Verfilmung erhält auf Drängen von Kurt Weill die Spelunkenjenny den Song vom Abwaschmädchen, das mit dem Lied seinen Verrat an seinem >Herrn< kommentiert. Weill-Handbuch zum »Barbara-Song«: Bruinier »worked closely with Brecht between 1925 and 1927. Among these settings are versions of two songs later used in Die Dreigroschenoper : >Seeräuberjenny< and the >Barbara Song<. The latter need not detain us here, as its bearing on Weill’s setting is insignificant. >Seeräuberjenny< is very much more interesting. […] Certainly it is not out of the question. But until we have further evidence, Dümling’s conjecture belong to the same department of quasi-mystical faith as Bentley’s 1961 >Homage<. In his excitement at the discovery of Brecht-Bruinier, Dümling seems to have lost his crip on musical and other facts. For what is both >as - tonishing< and >celebrated< is not Brecht’s serviceable but in itself unremarkable idea; it is Weill’s composition of it. Bruinier may have been the first musican to board Brecht’s Schiff mit acht Segeln< but it was Weill who took it to sea and steered it to its destination with all its cannon blazing.« (David Drew: Kurt Weill: A Handbook. Berkeley, Los Angeles 1987, S. 202f.) Lotte Lenja und Rudolf Forster in Pabsts Film von 1931, Hurenhaus von Turnbridge, kurz vor Jennys Verrat, den sie mit der Seeräuber-Jenny einleitet und begründet. Es ist >sein< Donnerstag. Matthäus 26,47ff.: »Und als er noch redete, siehe, da kam Judas, einer von den Zwölfen, und mit ihm eine große Schar mit Schwertern und mit Stangen, von den Hohenpriestern und Ältesten des Volkes. Und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen genannt und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist's; den er - greift. Und alsbald trat er zu Jesus und sprach: Sei gegrüßt, Rabbi!, und küsste ihn.« Anmerkung: David Drew referiert Forschungs-Ergebnisse, die Albrecht Dümling 1985 in seinem Buch »Laßt euch nicht verführen. Brecht und die Musik« vorlegte. Drews Bewertungen fallen für ein Handbuch, das sachlich zu informieren hat, auffällig ausfallend aus. Dümling nahm u.a. 2017 im »Dreigroschenheft« (3/2017, S. 13-28) Stellung: »Obwohl die Refrain-Melodie der Seeräuber-Jenny tatsächlich erst in Weills Fassung berühmt wurde, ist Brechts musikalische Idee zum Refrain keineswegs unscheinbar. Um sie als un - scheinbar erscheinen zu lassen, verwies Drew auf ähnliche Intervalle im Lied Poljuschko Pole des Sowjet-Komponisten Lew Knipper, das Weill 1943 bearbeitet hatte. Da dieses Lied aber erst 1933 entstand, mutmaßte Drew: Unzählige Parallelen könnten zweifellos in der russischen Folklore vor und einschließlich der Zeit der Oktoberrevolution gefunden werden. Demnach hätte Brecht für seinen Refrain zur Seeräuber-Jenny lediglich gängige Formeln übernommen.« Dümling entdeckte im Nachlass die Unterlagen zu »Larifari« (Berliner Funk-Stunde am 31.12.1926), was im Fall der Seeräuber-Jenny den faktischen Nachweis erbrachte, dass Carola Neher den Song nach Brechts Melodie und Bruiners Arrangement im Radio sang. Weill rezensierte die Sendung und lobte Nehers Vortrag als >vorzüglich<. Der Weill-Forschung gelang es, diese Kritik Weills in der Ausgabe seiner Schriften in einer Fußnote zu verstecken und so zu vermeiden, dass Carola Neher im Namenverzeichnis auftauchte. Rückblickend erweisen sich Drews Aus-Lassungen (>quasi- mystical faith<), nämlich all der Anteile Brechts und Bruiniers an der Musik vor Weill, als bewusste Fälschungen, die schließlich auch noch in die Große Brecht-Ausgabe eingingen. Der Suhrkamp Verlag weigert sich bis heute (10.02.2021), diesen Fakten zu folgen und die Fehler in der GBA richtigzustellen. Michael Morley zum »Alabama-Song«, referiert von Albrecht Dümling: Erst kürzlich stieß der Autor auf Michael Morleys bereits 1982 veröffentlichten Beitrag über frühe Lieder von Brecht und Weill. Nach genauer Betrachtung der Mappe 249 im Brecht-Archiv war dieser australische Brecht- und Weill-Forscher hinsichtlich des Alabama-Songs zum Ergebnis gekommen, dass Brechts Rolle bei der Notation der Melodie bedeutsamer war als Weill ihm zugestehen wollte. Über die Melodie zur Seeräuber-Jenny schrieb Morley, wesentlich für ihre eindringlich gespenstische und bedrohliche Stimmung sei der Wechsel von den drängenden Staccato-Vierteln und Achteln der Strophen zum ly - risch fließenden Refrain mit seinen weiträumigen Intervallen. Aber es ist eben diese Struktur von Spannung und Entspannung, der Gegensatz von Bewegung und nachhallender Stille, der sich schon in Brechts ursprünglicher Komposition findet. Angesichts der melodischen Begabung, für die Weill so gerühmt wurde, überrasche es umso mehr, dass der Refrain, den man so lange für eine von Weills inspiriertesten Eingebungen hielt, nun als ganz eigene Schöpfung Brechts erscheint.« (Dreigroschenheft 3/2017, S. 28) Da sich der Barbara-Song ebenfalls in dieser Mappe befindet (BBA 249/60 bisher übersehen?) und identische Überlieferungsmerkmale aufweist, gilt das Gesagte auch für dieses Lied. Die Balladen von Bertold Brecht, die durch eine Verkettung sonderbarer Zufälle seit Jahren einzeln bekannt und teilweise populär geworden sind, ohne in Buchform zu erscheinen, sind jetzt in >Bertold Brechts Hauspostille< vereinigt, die der Propyläen-Verlag zugleich mit zwei Theaterstücken Brechts eben heraus - bringt. Die Postille umfaßt >Bittgänge<, >Exerzitien<, die >Kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen< und andere Kapitel Moritaten mit Musik, Chroniken von der Sonderbarkeit, Armseligkeit, Abenteuerlichkeit und Lust des Lebens, singbare Refrains, vollgewichtige Strophen. (Der Querschnitt, Band 7, Heft 3, März 1927, S. 220) Die Schlammgeborenen und ihre Choräle »Wenn unsere Väter ins Kabarett gingen, so geschah es mit dem dumpfen Gefühl der Lasterhaftigkeit, des intellektuellen Seitensprungs. Sie kamen sich vermutlich sehr erwachsen vor, wenn die Barrison-Sisters ihre Beine bis zum Knie entblößten, wenn für ihre Begriffe unanständige Couplets gesungen wurden […]. Das damalige Kabarett war sich seiner unterirdischen Funktionen sehr genau bewußt. Es sah sich selbst als die Kehrseite einer Welt, nach der es insgeheim Verlangen trug, und die ihm doch für immer unerreichbar blieb. Bürgerliche Solidität war der Wunschtraum aller dieser Chansonetten, der latente Refrain ihrer Lieder. Höchst moralische Begriffe wie Liebe, Sehnsucht, Heimat und Heirat bildeten das Grundmaterial, aus dem auch die laszivsten Texte kon - struiert waren. ║Die Phalanx der BARBARA’s: Marlene Dietrich (Typ 2) ║ Lotte Lenja (Typ 2) ║ Margo Lion (Typ 2) ║ Kiki (Typ 2) ║ Carola Neher (Typ 3)║ […] Noch das Freudenhaus wurde, nach der Nächte Müh und Last, ein zärtliches Home sweethome, wo die unzüchtige Hausfrau Strümpfe wusch und trocknete. Der Typus der sehnsüchtigen Dirne, der es nicht an der Wiege gesungen war, und ihr Gegenspieler, der rettende, erlösende Mann mit der wahren Liebe beherrschte die einschlägige Literatur. […] Aus. Vorbei. Die ethischen Krücken, wurm - stichig schon seit geraumer Zeit, sind endgültig zerfallen. […] In einer sozial aus den Fugen geratenen Welt ist für moralische Nachdenklichkeiten kein Raum. Die Schlagzeilen des Mittagblatts sind wichtiger als die leeren Drohungen derApokalypse. Die sen - timentale Kokotte ist per Holzklasse in die Hölle gefahren, wie sie’s verdient. Und aus dem Schlamm ward, mit leichter Variation des mythischen Sachverhalts, die neue Venus vulgivaga geboren, griechisch Pandemos, berlinisch Nutte genannt. An die - sem Typus scheitern alle Versuche der morali - schen Klassifizierung, weil ihm jede derartige Voraussetzung fehlt, selbst die der Negation. Die Nutte in ihrer reinsten Form sehnt sich nicht; bürgerliche Welt, Moral, Gott sind ihr unbekannte Begriffe, und selbst das Geld spielt bei ihr eine Rolle zweiten Ranges. Sie ist die real gewordene Geschlechtlichkeit. Sie wurde ordinär, nicht aus Opposition gegen ein anderes Frauenideal, sondern aus Zwang, weil die Gemeinheit ihr Selbstzweck ist, weil sie nichts anderes kennt. Inzwischen hat Berlin den Typus kultiviert. Hier, wo der Zerfall der Gesellschaftsmoral sich am hand - greiflichsten vollzieht, ist die geistige Basis, ist auch das Frauenmaterial zur Ausbildung des Nuttenkults gegeben. 1928 haben Bert Brecht und Kurt Weill die erste Fassung von >Mahagonny< an die Oeffentlichkeit gebracht, ein Bühnen-Werk, das die sozial-anarchischen Voraussetzungen dieses neuen künstlerischen Standpunktes auf grundlegende Weise zur Anwendung bringt. Kurze Zeit darauf ist die >Dreigroschenoper<da, aus den gleichen Elementen gebaut und als erstes Kunstwerk der Gattung erfolgreich. (Hans Heinz Stuckenschmidt: So wird heute gesungen. Choräle aus dem Schlamm. Eine Feststellung. In Uhu, Jg. 6, 1929/30, Heft 9, Juni 1929, S. 44-48) Sport im Bild. Das Blatt der guten Gesellschaft. Berlin, Wien, Heft 1, 7. Januar 1927, S. 18 Bert(olt) Brechts Erzählung »Barbara. Eine kleine Autogeschichte« erschien in einer Illustrierten, in der sie niemand vermutet hatte, einem Blatt nicht einfach der >guten<, sondern der überaus betuch - ten Gesellschaft. Diese interessierte sich ausschließlich für Autos, Golfspielen, Mode, für verwöhnte kleine Schnucki-Girls der Berliner und Wiener High Society, für Eishockey im Berliner Sportpalast und für Reisen, Reisen, Reisen, Reisen sowie für Reklame: Reklame auf fast jeder Seite. Die Geburt der Venus vulgivaga erfolgte parallel zum Aufschwung der viereckigen Droschke mit Pferdestärken unter dem Deckel, den man vornehm Haube , nannte, weil ihr Besitz anzeigte: Die Natur ist in kultivierte Ordnung, das hießt: unter die Haube gebracht (da befindet sich der Motor). Entsprechend passten sich die Formen an und wehe, wer da an Sex denkt womöglich ungebändigten. Unter der/die Haube sieht man nicht. Mann in Form, besser: Unform, kommt in Fahrt, wenn Barbara mit dem Kabarettdirektor einen >Termin< hat: Auto+Sex=das neue Thema. Diese Barbara heißt nicht Jenny / Die Räuber fahren noch in Postkutschen »Die Dreigroschenoper« hat drei Jennys. Nur eine davon ist Figur (Person) des Stücks, die Hure Jenny, genannt die >Spelunkenjenny<. Die beiden weiteren Jenny‘s gibt es nur in den Liedern: die Jenny Towler (Typ 1) und die Seeräuber-Jenny (Typ 2). Von Jenny Towler, genauer von ihrer Leiche, singt der Leierkastenmann, der Moritatensänger: Jenny Towler ward gefunden Mit ‘nem Messer in der Brust Und am Kai geht Mackie Messer Der von allem nichts gewußt. Anita Berber (1928) Nach dem Beinamen des >Helden< sowie der Tatsache, dass der Haifisch seine gefährlichen Zähne offen trägt, das Mordinstrument des Räubers jedoch verborgen bleibt, handelt es sich um eines der Opfer der Bande, im Stück die >Platte< genannt. Diese Jenny erhält keine Geschichte. Sie bleibt an - onym. Sie gehört zu denen, die im Dunkeln hausen, und die man nicht sieht und die kein Gesicht hat. Sie ist nur eines der Opfer der räuberischen Verhältnisse, deren Namen, Jenny Towler , die Polizei zwar noch verzeichnet, nach der kein Hahn mehr kräht, auch nie gekräht hat. Die Seeräuber-Jenny ist der Name des Abwaschmädchens in der Fiktion ihres Lieds. Sie singt es als >Verheißung< einer durch sie subversiv vorbereiteten Apokalypse der herrschenden Gesellschaft. Für deren Ende steht, so jedenfalls verstand der Philosoph Ernst Bloch den Song, das schneidend- fröhliche >Hoppla< , mit dem diese Jenny die Köpfe der Macht rollen lässt, und zwar: Alle! Die Jenny verkörpert, so weiterhin Bloch (1929), das »Unterirdische des Weibs, sein geheimes Einverständnis mit der Unterwühlung«. Sie gehöre, so immer noch Bloch in seiner Eloge, gewidmet Lotte Lenja und Kurt Weill, zu den »Hexen, vor denen die gesamte Christenheit zitterte, ja zum Rebellensymbol der Paradiesschlange, mit der sich Eva so gut versteht«. Nun gut, das reicht. Diese Barbara, fremd den Herren, unberechenbar, der Drachen am Herd, die Fregatte im Garten, die Kanaille in der Gesellschaft, das Püppilein unter Männern, erwartet jedoch immer noch den Erlöser, den Mann »aus der völligen Fremde, aus Übersee«, so schon wieder Bloch, den »Rächer, Entführer, Schiffs-Messias dereinst«. Nein, auch mit dieser Barbara wird sich nichts Grundlegendes ändern, eine weitere, vor allem in Deutschland erlogene >Revolution<, und die HERRschaft geht weiter, auch wenn Frauen sie nun übernehmen oder schon übernommen haben. Ihr heutiges FORMAT tauchte einmal kurz im öffentlich-rechtlichen Fersehen auf, im TATORT »HARDCORE« von 2017, den die ARD es gab natürlich öffentlichen Protest, vor allem von Frauen, die diese BARBARAs noch nicht kannten – aus ihrer Mediathek verbannte. »In den knapp 88 Minuten Spielzeit von >Hardcore< werden viel nackte Haut gezeigt und auch sexuelle Handlungen nicht tabui - siert. Sehr klar ist außerdem die Sprache dieses Tatorts: es wird gevögelt, gefickt, gewichst, Darstellerinnen werden als Fotzen bezeichnet. Cumshots und Bukkake, DP und ATM sind in der Pornobranche geläufige Vokabeln , die sich Franz und Ivo [die Ermittler] erst einmal aneignen müssen, um die Befragungen der im Fall Beteiligten angemessen durchführen zu können. Der Krimi behandelt neben der Aufklärung des Mordfalls die per - sönlichen Geschichten der Porno-Produzenten, die zuletzt in den 70er und 80er Jahren tatsächlich gutes Geld mit ihren >Schmuddelfilmen< verdienten, und heute nicht wissen, wie sie damit die nächste Miete bezahlen sol - len. Der Internetboom setzte der Branche ordentlich zu. Ähnlich ergeht es den Porno-Sternchen und Laiendarstellern, die eher aus eigener Lust und Neigung heraus vor der Kamera agieren, als aus rein wirtschaftlichem Denken: hauptberuflich arbeiten sie alle in konventionellen Berufen; sie sind häufig im Mittelstand zu finden konsumiert werden Pornos übrigens durch alle Gesellschaftsschichten hin - durch. Es sind Lehrer, Pädagogen, Pfleger, Apotheker, die ihre Bedürfnisse vor der Kamera ausleben: meist alles Amateure. Sie leben immer mit der Gefahr, erkannt zu werden, sie riskieren dabei ihr ge - sellschaftliches Ansehen, ihre Reputation, ihren Job. Für den Kick, selten für das Geld.« ( https://tatort- fans.de/tatort-folge-1030-hardcore/ ) Dies ist ein Auszug aus einer Darstellung des offiziellen Fan-Clubs, die aus der ermordeten >Heldin< ein »Porno-Sternchen« macht und ansonsten mutig auf die verlogene Doppelmoral der Gesellschaft mit ihrem erhobenen Dödel zeigt, der aber wie eine Zuschauerin schamlos bemerkt im Gegensatz zum penetrierten Frauenfleisch im Film nicht zu sehen war, obwohl er doch >eigentlich< die Hauptrolle spielte. Nein, diese Eva wollte einfach nur wie es offen heißt vögeln, ficken, wichsen (wie die Männer) und findet in unserer formierten Gesellschaft dafür nur die >Swinger<-Clubs. Und das Schlimmste: sie will nicht davon lassen. Der Ordnung halber bringt der Mann sie um. Das war’s schon: Barbara Typ 2. Da ändert sich nix. Fotze bleibt Fotze, übrigens der Lieblingsausdruck auch in den offiziellen Krimis von ARD und ZDF (2019/20/21 Dutzende Male gezählt, z. B. Polizeiruf 110: Monstermutter am 31.01.2021, ARD) – von Frauen für Frauen. Parallel dazu steht die Spelunkenjenny . Sie scheint eine ganze Stufe weiter zu sein. Sie ist die emanzipierte Nutte, die weiß, wie frau mit den >Kunden< umzugehen hat. Wenn sie die Männer nicht sexuell vorführt sie kennt dieses Geschäft und seine bürgerlichen Gewohnheiten greift sie zum üblichen Mittel, und das ist der Verrat. Sie verfügt über die >List des Weibes< und wird zum Judas an ihrem >Herrn<; denn auch ihr Name fängt mit >J< an, und dies alles geschieht auf dem Hintergrund der Passion Christi (Donnerstag: Verrat Freitag: Hinrichtung; Westminster schlägt dreimal die Glocke, und Gott=Königin rettet ihren >Sohn<). Aber auch hier bestätigt der Ausgang die Regel der räuberischen Gesellschaft, die sich anschickt aus dem Schlamm der Gossen in die gelackten Bankhäuser der City zu wechseln. Das Verbrechen veredelt sich, ändert aber nichts an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Kommt also noch die Polly, Typ 3, und die heißt nicht Jenny und nicht Barbara aber sie ist immerhin die Andeutung (nicht die Ausführung) der Barbarischen , der Fremden, die eben deshalb jeder Beschreibung spot - tet und wie ihr Vorbild Iphigenie (Goethe) eigene Wege geht. Polly gewinnt ihre schillernde >Identität< über ihren Song, den der Seeräuber-Jenny. Da diese aber an der Schwelle des Übergangs von Droschke und Auto oder nach der Ökonomie formuliert: des Übergangs der Räuberei zum seriösen Bankgeschäft oder vom ge - meinen Mord zum Organisierten Verbrechen steht, klinkt sich sie aus der Reihe der Elsas, der Nonnen Schuberts oder eben jener Sentas aus, die den Mann erlöst, um an seiner Seite in den Himmel der Patriarchen aufzusteigen. Aber da blieben wir bei Wagners »Fliegendem Holländer«. Mitten im 19. Jahrhundert, im Jahrhundert, das die Deutschen so lieben, weil sie in der Kunst ein wenig Muse von der Technik benötigen. Der Bayreuther Brunst-Hügel winkt. Diese Barbara bleibt den Männern fremd, die Gesellschaft aber nähret sie doch. Wer wen? Ungeübter Blick sieht in der Polly das junge naive Mädchen, das sich so langsam, aber unsicher in die Rolle der Räuberbraut und schließlich in die der Platte-HäuptlingIn HINEIN-ENTWICKELT. Die Oper lässt jedoch keine Zweifel aufkommen, dass Polly längst im Schlamm der Gosse des Herrn Vaters, des Königs der Sümpfe pfuhlt, ehe sie durch ihren >Captn< dessen leibhaftigen Duft ins trop - fende Möschen getrieben bekommt. Gemäß der Tatsache das sind Ergebnisse der Soziologie –, dass in der bürgerlichen Geldgesellschaft die Frauen nicht mehr offen als Unteranin des Herren, hinter ihm mit den Kinderchen trottelnd, vorgeführt, vielmehr, ob sie auf Zeit (im Puff) oder auf Lebenszeit (in der Ehe), gekauft ist, muss die Tochter auf ihren künftigen Beruf (als Geschäftsfrau) vorbereitet werden. Dies geschieht die Frau bleibt Objekt der Herrschaft durch Prostitution. Und die erlernt das brave Pollylein zu Hause, in einem Haushalt, in dem die untervögelte Mutter säuft und der sado-masochistische Vater sich am Elend dadurch ergötzt, dass er den Sumpf der Drury Lane und an - derer Feuchtalleen mit duftenden bun - ten Blüten dekoriert dem läufigen Töchterlein das Nachthemd im Bad verordnet, damit es seine sanfte Haut (und anderes) nicht zu sehen bekommt. »Erst behängt man sie hinten und vorn mit Kleidern und Hüten und Handschuhen und Sonnenschirmen, und wenn sie soviel gekostet hat wie ein Segelschiff, dann wirft sie sich selber auf den Mist wie eine faule Gurke.« Das weiß Frau Mama über ihre Kleine zu berichten. Der alte Sack hält mit: »Celia, du schmeißt mit deiner Tochter um dich, als ob ich Millionär wäre! Sie soll wohl heiraten? Glaubst du denn, daß unser Drecksladen noch eine Woche lang geht, wenn dieses Geschmeiß von Kundschaft nur unsere Beine zu Gesicht bekommt? Ein Bräutigam! Der hätte uns doch sofort in den Klauen!« Genau an dieser Stelle steht durchaus in erkennbarem Zusammenhang und als inhaltliches Signal der »Barbara-Song«. Polly deutet damit nicht nur >ihre< Heirat an, mit der sie die Konsequenz aus ihrer Erziehung zieht, sondern auch, dass sie, wenn schon denn schon, ihren Verkauf selbst organi - siert, also aus dieser Herrschaft (Typ 1) aussteigt und den >Bräutigam< selber wählt. Diese Barbara demonstriert ihren korrupten Eltern, dass sie durchschaut sind, dass ihnen ihr Töchterlein fremd ge - blieben ist und dass diese sich aus der ihr zugedachten Rolle als zukünfigte Ehenutte befreien wird. Die Befreiung erhält zum Zeitpunkt, als der Mann, hier der stolze Räuberchef Mac, seinerseits wähnt, die Frau, Polly, auf Lebenszeit gekauft zu haben, einen neuen Akzent. Polly verwandelt die mühsam aufgebaute Szenerie der Hochzeit virtuell in einen Sumpf und siedelt inmitten des gerade gegründe - ten (scheinbar) bürgerlichen Haushalts die Umstürzlerin an. Von dieser Jenny erfahren wir nichts, außer, dass sie über verschiedene Formate der Realität verfügt: über die Szenerie der bürgerlichen Wohlanständigkeit, über die der bürgerlichen Geselligkeit, über die des realen Sumpfs der Gesichtsrosen, die nie auf Rosen gebettet waren, und über eine Möglichkeit, diesem ganzen Theater die Bretter unten den Füßen wegzuschlagen. Ansonsten bleibt sie fremd. Sie folgt keinem Herrn mehr, sie entflieht auf wankendem Boden wohin? Es gibt keine reale Utopie, die deshalb auch so heißt, nämlich Nicht-Ort. Es gibt nur Aussicht auf Veränderung. Die jedoch so die Andeutung und so das Verhalten der Polly im Spiel – wartet auf keinen Messias mehr. Deshalb heißt sie Barbara. Eine weitere Andeutung jedoch will ich nicht verschweigen. Im anschließenden >Gespräch<, genauer in der Theater-Kritik der Platte und Macs denn Theater hatte Polly ja gespielt mit ihrem Song –, fügt sich der Offenheit der >Lösung< noch ein Aspekt an: MATTHIAS Sehr nett, ulkig, was? Wie die das so hinlegt, die gnädige Frau! MAC Was heißt das, nett? Das ist doch nicht nett, du Idiot! Das ist doch Kunst und nicht nett. Das hast du großartig gemacht, Polly. Aber vor sol- chen Dreckhaufen, entschuldigen Sie, Hochwürden, hat das ja gar keinen Zweck. Leise zu Polly: Übrigens, ich mag das gar nicht bei dir, diese Verstellerei, laß das gefälligst in Zukunft. Die Veränderung benötigt Verstellen, das Verrücken, das Wechseln der Ebenen, das Aufdecken von Schein und Sein, sie braucht Ver-Fremdung, und die kommt wer hätte das gedacht? von den Barbarischen, den fremden Frauen, von denen wir nur eines wissen, dass sie nicht mehr den Männern Paroli bieten wollen, mit ihnen gleichziehen (was ist Gleichberechtigung?), sie >gar< über - treffen wollen, sondern für veränderte, für grundlegend veränderte Verhältnisse sorgen werden. Wie sie aussehen? Wer weiß? Kurz: Barbara ist die kunstreiche und lustvolle weibliche Inkarnation des ästhetischen Prinzips der Ver-Fremdung. Die profane Legende der unheiligen Barbara (authentisch um 300 nach Christus) Und es begab sich, dass die kluge und wunderschöne Tochter des reichen Unternehmers, der sich Dioscuros, Sohn des Zeus, nannte, ihrem Vater den Gehorsam verweigerte. Sie wollte weder seinem Geschäft dienen, noch wollte sie auf den Bräutigam warten, den ihr Göttervater schon vor ihrer holden Geburt für sie ausgesucht hatte: gelackt, von schimmernder Haut, nach allen Parfümen des Orients damp - fend, schön wie die Statue des Narziss, hohl im Kopf und ausgestattet mit einem ausgesucht kleinen Pimmel. Diesen hatte sie einst, als der Jüngling sich zum Bade begab im nahen Golf von İzmit, unbemerkt erspäht und beschlossen, der kommt mir nicht zwischen meine fein - fleischigen Schenkel. Da nehme ich lieber den miefenden Fischerburschen aus dem Hafenviertel. Der stinkt wenigstens in - tensiv nach dem, was er täglich an schwe - ren Weinen in sich hinein gießt, und nach den Fischkadavern, die er trantriefend in sein Maul stopft. Dessen Schwengel sah sie schon von weitem die Pumphosen füllen. Da musst du dich einfach hinlegen, sagte sie sich. Der Vater jedoch hütete sie für seine Nachfolge, verbot ihr, sich an ihrer zarten Haut zu er - freuen, und hielt die sorgende Mutter entschieden an, das Kind nur im Nachthemde zu baden. Er erkannte ihre bösartige Neigung und schloss haarscharf auf übersteigerte sexuelle Appetenz ja so hieß dies einst in der Fachsprache – und sie im Turm des Hauses ein. Als ihr Vater auf Geschäfte verreiste, um seiner Appetenz am Altar der Aphrotitte zu huldigen, juckte es sie unerklärlich. Darob kletterte sie stracks, aber heimlich aus dem Turm herab, indem sie mit ei - sernem Griff das Fenster nach außen stieß, eilte in den Hafen und warf sich zum Fischer höschenlos ins Traumboot der Liebe. Während sie sich tranvoll zusangen >die Liebe dau - ert oder dauert nicht<, ließ sie unter weitem Rocke ihren zarten Mond herr - lich aufgehen. Sie flog nach oben, bald mit dem Steiß, bald mit dem vorderen Gesicht. Der Wind tastete durch die Gewänder. Und die künftige Madonna mit dem weißen Steiß lächelte lieblich doppelten Gesichts. Der grüne Mond droben, der freundlich zusah, befand: Das ist gut so und kann vorläufig so bleiben. Der Vater, zurückkehrt, bemerkte natür - lich den Schaden an seinem herrschaft - lichen Anwesen und erkannte klar und deutlich: Ich habe dieses Segelboot nicht aufgetakelt, damit es sich als löchrige Ruderkiste unter den Brücken der Themse verkrümelt. Das ruiniert mein Geschäft. Also verabreichte der Vater ihr reichlich und täglich Prügel, damit sie sich eines Besseren besönne. Doch eines Tages gelang es ihr, sich mit Hilfe des Burschen zu befreien. Jetzt musste das Gefühl endgültig und immer auf seine Rechnung kommen. Der Mensch wird ja sonst zum Tier. Die Liebe dauerte nicht, auch nicht an diesem, schon gar nicht an jenem Ort. Als der Bursche bemerkte, dass der kleine Teil des Mädchens von İzmit auch anderen genügen könnte, gönnte er sie auch seinen Genossen, damit die Gang mit Bang genösse, was er schon satt hatte. Wenn schon teilen, dann richtig. Außerdem pflegte die nunmehrige Hausfrau am heimischen Herde undeutlich von einem Schiff mit acht Segeln so penetriert zu flöten, dass er befand, solch unzüchtige Liedchen gehörten in den Puff und die Frau dazu. Meer ward mehr bei so viel weiblicher Nässe. Da ertrinkt >man< auf die Dauer. Besser sie ginge gleich ins Wasser. Die sexuelle Appetenz hatte sie so weit gebracht. Zeus erbarmte sich jedoch seines Sohns. Denn es erhob sich unverhofft –– ein freundlicher Leumund über das Mädchen aus İzmit. Der Vater zahlte für ihn ein Vermögen an die stets offenen Hände (und Hosen) der Priesterkaste, die sich ihren Ruf was kosten ließ. Auch sie hatten Aktien bei Dioscuros, den Göttlichen, und deren Hochs durften nicht auf absteigendem Aste ins Bodenlose sinken. Wo blieb sonst die Altersversorgung? Auf Zeus selbst, der seiner sexuellen Appetenz auf Europa, diesmal wie - der als Bulle, an den Quellen des Finanz-Segens nuckelte, war kein Verlass mehr. Auch hier zog die Neue Zeit ein. So ging die Kunde, die Tugendhafte von İzmit sei auf dem Weg zum Bade im Golf von İzmit vom Pfade abgekommen, den Felsen hinabgestürzt und im Meer ihrer eigenen Nässe verschwunden. Da sich aber der Kirschzweig, den sie als Zeichen ihrer Reinheit bei sich trug, als sie stürzte, verfing ihrem Gewande und nach dem Sturze liegen bleib, siehe, da tränkte er sich aus dem Meer mit dem Samen des nachhaltigen Wachstums und erblühte in voller Pracht. Dies ein jedes Jahr von neuem. Dieser Baum, genauer seine aufblühenden, wahrlich imaginativen Zweige erinnerten an das schöne Mädchen von İzmit und fanden ihren heiligen Platz im aufgepflanzten Turme der Herrschaft, wo einst das züchtige Mädchen ihrer Bestimmung harrte. Ihre arbeitsteilige Analogie ging derweil der eingeborenen (=indigenen) Berufung nach. Der kleine Teil wurde mit den Zeiten immer ge - nügsamer und starb schließlich ab und die Dame dazu. Da sie allen eine Fremde blieb, nannten sie sie Barbara. Den Sohn des Zeus, ihren Vater, erschlug der Blitz, den er seinem Vater zum Erproben entwendet hatte, aber nicht hantieren konnte. Das hatte er nun davon. Zu Ehren der Barbara von Nikomedia stellt man bis heute am 4. Dezember, dem Barbaratag, ein paar Zweige des Kirschbaums in die gute Stube und hofft, dass sie bis zur Auferstehung des Fleisches in Blüte kommen. Wer ihren zarten Duft einhaucht, der sei, so sagt man, geschützt vor Gewitter, Feuer, Pest und Fieber und plötzlichem Tod und schiefen Legenden, die zum Himmel stinken. Quod erat demonstandum. Valeska Gert: Die herrliche Wollust oder Der Vorhang zu und alle Fragen offen Ich begehre, nicht mehr zu leben. Laß ab von mir, denn meine Tage sind eitel. Was ist ein Mensch, daß du ihn groß achtest, und bekümmerst dich um ihn? Du suchest ihn täglich heim, und versuchest ihn alle Stunde. Hab ich gesündigt, was tue ich dir damit, o du Menschenhüter? Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe, daß ich mir selber eine Last bin? Und warum vergibst du mir meine Missetat nicht und nimmst nicht weg meine Sünde? Denn nun werde ich mich in die Erde legen, und wenn du mich morgen su - chest, werde ich nicht da sein. (Das Buch Hiob). Man muß die Knie vorwerfen wie eine königliche Dirne, als ob man an Knien hinge. Die sehr groß sind. Und purpurne Todesstürze in den nackten Himmel und man fliegt nach oben, bald mit dem Steiß, bald mit dem vorderen Gesicht. Wir sind völlig nackt, der Wind tastet durch die Gewänder. So wurden wir geboren. Nie hört die Musik auf. Engel blasen in einem kleinen Panreigen, daß er fast platzt. Man fliegt in den Himmel, man fliegt über die Erde, Schwester Luft, Schwester, Bruder Wind! Die Zeit ver - geht und nie Musik. Nachts um 2 Uhr werden die Schaukeln geschlossen, damit der liebe Gott weiterschaukeln kann.
BRECHTLEBTBRECHTIANA 28. September 2021
BRECHTIANA SONG 01
BRECHTIANA Als Dylan Brecht endeckte