BRECHTLEBTBRECHTIANA 18. November 2022
Die epische Musterszene
der »Dreigroschenoper« (Hochzeit im leeren Pferdestall)
Die Literaturwissenschaft untersucht FICTION – und bietet Differenzierungen an: Beispiel die Hochzeitsszene der »Dreigroschenoper«, die MUSTERSZENE des EPISCHEN THEATERS (übertragbar):
Picasso: Mädchen vor einem Spiegel (1932) a Jenny is a Jenny is a Jenny is a Jenny is a Jenny is a
Titel: Tief im Herzen Sohos feiert der Bandit Mackie Messer seine Hochzeit mit Polly Peachum, der Tochter des Bettlerkönigs.
Leerer Pferdestall. Am nächsten Tag 5 Uht nachmittags. Es ist ziemlich dunkel. Herein tritt Macheath mit Münzmatthias und Polly. MATTHIAS leuchtet den Stall ab, mit Revolver: Hallo, Hände hoch, wenn jemand hier ist! Macheath tritt ein, macht einen Rundgang auf der Rampe entlang. Moritatenmusik Nr. 2, ganz leise, wie als Motiv. Macheath tritt ein, macht einen Rundgang auf der Rampe entlang. Musik hört auf. MACHEATH Na, ist jemand da? MATTHIAS Kein Mensch! Hier können wir ruhig unsere Hochzeit feiern. POLLY tritt im Brautkleid ein: Aber das ist doch ein Pferdestall!
Das Theater in ein für die Aufführungen von Bühnenwerken bestimmtes Gebäude. Es ist – nach allgemeiner Übereinkunft – >real<. Ein Beispiel: Das Theater am Schiffbauerdamm, Berlin-Mitte, ein neobarocker Bau von Architekt Heinrich Seeling, wird als Neues Theater am Schiffbauerdamm 4a/5 mit der »Iphigenie auf Tauris« von Johann Wolfgang von Goethe am 19. November 1892 in Berlin eröffnet. – Seeling gestaltete die Spielstätte als einheitliches Bauwerk zusammen mit dem vorgelagerten Wohnhaus, direkt hinter der am Schiffbauerdamm bereits vorhandenen Wohnbebauung. Die südöstliche Fassade und der Eckturm bildeten die Ansichtsseite (hier nach einem Foto von 1908). Die vorhandenen Bauten bis zur Friedrichstraße bildeten den baulichen Anschluss an das Theatergebäude. Die Turmhaube wurde extra hoch gestreckt und üppig ausgestattet, damit das Theater inmitten der übrigen Gebäude als kulturelle Spielstätte aus dem Ensemble der umgebenden Wohn- und Restauranthäuser hervorragte: Kultur zeigte sich auch äußerlich als Kultur. Die Spielstätte wurde im 2. Weltkrieg leicht beschädigt. 1953 befanden Kulturbanausen der SED-Diktatur, das Gebäude trage zu viel überflüssigen feudalen Schmuck, und ließen sowohl die äußeren >Verzierungen< abhacken als auch die Haube absäbeln.
1. Ebene: Theater (Gebäude)
2. Ebene: Theater (Gebäude)
Die Bühne ist der Ort, an/auf dem sich die Aufführung von Bühnenwerken abspielt/ereignet. . Sie ist – nach allgemeiner Übereinkunft – ebenfalls >real<. ║ Nach Friedrich Schillers Gedicht »An die Freude« (1803) bildet die Bühne die „Bretter, die die Welt bedeuten«. Die damalige Übereinkunft hieß: das Bühnengeschehen >ahmt< die Wirklichkeit (= Realität) >nach< (Mimesis/Nachahmung). Da sich aber auf der Bühne nicht Wirklichkeit >wirklich< ereignete, sondern >nachgespielt< wurde, >be- deuten< ihre Ereignisse nur >Welt<. Das heißt: sie stehen nur als >Zeichen< für die reale >Sache< , sind aber nicht mit ihr zu verwech- seln. Die Bühne stellt Kunst dar, sie ein Ort für Spiel, genannt >Drama<. Ein Beispiel: Die Guckkastenbühne des Theaters am Schiffbauerdamm. Sie markiert durch ihren Portalrahmen eine klare Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum. Sie hat drei Wände, die 4. Wand zum Publikum hin ist offen. Das Bühnengeschehen spielt sich in einem gesonderten Raum ab (= Guckkasten). Die Zuschauenden sind nur >Zeugen<, Beobachter des Bühnengeschehens und (in der Regel) nicht an ihm beteiligt. Ein (meistens aus schwerem Stoff bestehender) Vorhang trennt überdies Bühne und Zuschauerraum. Geht er auf, beginnt das Bühnengeschehen; dies endet mit dem Schließen oder Herablassen des Vorhangs.
Die jeweilige Handlung des Bühnenwerks legt den Ort fest, an dem sie spielt. Dieser Ort wird auf der (realen) Bühne als (fiktiver) Schauplatz aufgebaut (Bühnenbau). Man spricht, um die Fiktion des Orts zu betonen auch vom »Bühnenbild«. Das Bühnenbild der Hochzeitsszene ist nach der Bühnenanweisung >Ein leerer Pferdestall< (in Soho, einem berüchtigten Stadtteil Londons). Dieser ist, so geht aus Polly’s enttäuschter Feststellung hervor, für eine Hochzeit kein angemesse- ner Ort. Die >Person< leitet sich von lateinisch »Persona« ab und bezeichnete ursprünglich die Maske, durch die die Stimme des Schauspielers hindurch tönte (per-sonare = hindurchtönen). Diese Bedeutung von >Person< ging wiederum darauf zurück, dass im antiken griechischen Theater alle (von Männern dargestellten) Bühnenfiguren Masken trugen. Da der Begriff später auf reale >Persönlichkeiten< übertragen wurde, sprechen wir heute besser bei den Personen, die von Schauspielerinnen dargestellt werden, von >Figuren<. Dieser Begriff ist abgeleitet aus lateinisch >figura< und bedeutet das Gebilde, das Geformte, das künstlich Hergestellte. – Polly ist folglich in der Hochzeitsszene eine Figur der Handlung, die jeweils von verschiedenen (realen) Personen (Persönlichkeiten; hier: Schauspielerinnen) gespielt und buchstäblich auch >ver- körpert< wird. Nach diesem Sprachgebrauch verkörperte 1931 im Dreigroschenfilm von G.W. Pabst (s. Abbildung) Carola Neher (als reale) Person die (fik- tive) Figur der Polly, die Tochter des >Bettler-Königs<, dann die Braut und schließlich die (bzw. eine der) >Ehefrau(en)< von Macheath, dem Gangster. – Mit Figur und Rolle verbindet sich eine traditionelle Identitätsproblematik, nämlich dann, wenn den Schauspielerinnen bestimmte >Rollenfächer< zugeschrieben wurden und einzelne Darstellerinen ad personam durch ihre Rolle definiert oder mit ihr identifiziert werden. Es handelt sich um das >Monroe-Syndrom<: Die Filmfigur der >Monroe<, verkörpert durch die reale Person der Norma Jeane Baker (ihr Taufname) ersetzt die Person, bis diese ihre Identität verliert und nicht mehr weiß: Wer bin ich? Who are you? Wird heute diskutiert als »Identitätspolitik« im Hinblick auf >ethnische<, >geschlechtliche< oder Gruppenzugehörigkeit.
3. Ebene: Bühne (Bild)
4. Ebene: Person auf der Bühne (Bild)
5. Ebene: Bühnenbau (gespielt) als neuer Spielort (Fiktion)
POLLY Aber hier kannst du doch nicht unsere Hochzeit feiern wollen? Das ist doch ein ganz gewöhnlicher Pferdestall. Hier kannst du doch den Herrn Pfarrer nicht herbitten. Noch dazu gehört er nicht mal uns. Wir sollten wirklich nicht mit einem Einbruch unser neues Leben beginnen, Mac. Das ist doch der schönste Tag unseres Lebens. MAC Liebes Kind, es wird alles geschehen, wie du es wünschest. Du sollst deinen Fuß nicht an einen Stein stoßen. Die Einrichtung wird eben auch schon gebracht. MATTHIAS Da kommen die Möbel. Man hört große Lastwagen anfahren, ein halbes Dutzend Leute kommen herein, die Teppiche, Möbel, Geschirr usw.schleppen, womit sie den Stall in ein übertrieben feines Lokal verwandeln. Da der (fiktive) Pferdestall ein für die Handlung nicht geeig- neter Ort ist, wird er durch die Darsteller in ein (fiktives) >übertrieben feines Lokal< verwandelt. Der zunächst voraus- gesetzte Bühnenbau wird innerhalb der Handlung durch die Figuren in einen neues Bühnenbild umgestaltet. Die Figuren der Handlung, hier die Mitglieder der Macheath-Platte (Bande), markieren dabei die Bühnenarbeiter, die normale- rweise anonym und unsichtbar bleiben. Der Bühnenbau ist in die Handlung integriert und findet auf offener Bühne statt (und nicht wie üblich hinter geschlossenem Vorhang). Das Publikum sieht, wie Bühnenbilder entstehen, aus welchen Requisiten sie künstlich zusammengebaut werden und wel- che Funktion sie für die Handlung zu erfüllen haben. Die Bühne zeigt, dass sie zeigt (bedeutet) und dass sie keine Wirklichkeit >wiedergibt<. Ein Beispiel: Jimmy, Münz-Matthias, (dahinter) Säge-Robert und Hakenfinger-Jakob möblieren den Pferdestall, so in der Inszenierung der Augsburger Puppenkiste von 1960. Die neue Ausstattung fällt zwar, weil zusammengestohlen, nicht perfekt aus, aber sie >bassd scho<.
6. Spiel im Spiel (fiktiv innerhalb der Handlung)
MAC Kann nicht einer mal was singen? Was Ergötzliches? MATTHIAS verschluckt sich vor Lachen: Was Ergötzliches? Das ist ein prima Wort. Er setzt sich unter Macs vernichtendem Blick verlegen nieder. MAC haut einem die Schüssel aus der Hand: Ich wollte eigentlich noch nicht mit dem Essen anfangen. Ich hätte es lieber gesehen, wenn es bei euch nicht gleich »ran an den Tisch und rein in die Freßkübel« geheißen hätte, sondern erst irgend etwas Stimmungsvolles vorge- gangen wäre. Bei anderen Leuten findet doch an solchem Tage wie dem heutigen auch etwas statt. JAKOB Was zum Beispiel? MAC Soll ich alles selber ausdenken? Ich verlange ja keine Oper hier. Aber irgendwas, was nicht bloß in Fressen und Zotenreißen besteht, hättet ihr schließlich auch vorbereiten kön- nen. Na ja, an solchem Tage zeigt es sich eben, wie man auf seine Freunde zählen kann. / […] / MAC Und jetzt bitte ich mir einen Cantus für Hochwürden Kimball aus. MATTHIAS Wie wäre es mit Bill Lawgen und Mary Syer? JAKOB Doch, Bill Lawgen, das wäre vielleicht passend. KIMBALL Wäre hübsch, wenn ihr eins steigen ließt, Jungens! MATTHIAS Fangen wir an, meine Herren. Drei Mann erheben sich und singen, zögernd, matt und unsicher:
Nr. 5. HOCHZEITSLIED. Ohne Begleitung. Bill Lawgen und Mary Syer Wurden letzten Mittwoch Mann und Frau Hoch sollen sie leben, hoch, hoch, hoch! Als sie drin standen vor dem Standesamt Wußte er nicht, woher ihr Brautkleid stammt Aber sie wußte seinen Namen nicht genau. Hoch! Wissen Sie, was Ihre Frau treibt? Nein! Lassen Sie Ihr Lüstlingsleben sein? Nein! Hoch sollen sie leben, hoch, hoch, hoch! Billy Lawgen sagte neulich mir: Mir genügt ein kleiner Teil von ihr Das Schwein. Hoch!
MAC ist das alles? Kärglich! MATTHIAS verschluckt sich wieder Kärglich, das ist das richtige Wort, meine Herren, kärglich.
7. Spiel im Spiel (Fiktion in der Fiktion mit neuem imaginiertem Bühnenbau)
POLLY Meine Herren, wenn keiner etwas vortragen will, dann will ich selber eine Kleinigkeit zum besten geben, und zwar werde ich ein Mädchen nachmachen, das ich ein- mal in einer dieser kleinen Vier-Penny-Kneipen in Soho gesehen habe. Es war das Abwaschmädchen, und Sie müssen wissen, daß alles über sie lachte und daß sie dann die Gäste ansprach und zu ihnen dann solche Dinge sagte, wie ich sie Ihnen gleich vorsingen werde. So, das ist die kleine Theke. Sie müssen sie sich verdammt schmutzig vorstellen, hinter der sie stand morgens und abends. Das ist der Spüleimer und das ist der Lappen, mit dem sie die Gläser abwusch. Wo Sie sitzen, saßen die Herren, die über sie lachten. Sie kön- nen auch lachen, daß es genau so ist; aber wenn Sie nicht können, dann brauchen Sie es nicht. Sie fängt an, scheinbar die Gläser abzuwaschen und vor sich hin zu brabbeln. Jetzt sagt zum Beispiel einer von Ihnen … auf Walter deutend Sie – – – Na, wann kommt denn dein Schiff, Jenny? WALTER Na, wann kommt denn dein Schiff, Jenny? POLLY Und ein anderer sagt, zum Beispiel Sie: Wäschst du immer noch die Gläser auf, du Jenny, die Seeräuberbraut? MATTHIAS Wäschst du immer noch die Gläser auf, du Jenny, die Seeräuberbraut? POLLY So, und jetzt fange ich an. Songbeleuchtung: goldenes Licht. An einer Stange kommen von oben drei Lampen herunter, und auf den Tafeln steht: Die Seeräuberjenny.
Nr. 6. SEERÄUBER-JENNY Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen Und ich mache das Bett für jeden. Und Sie geben mir einen Penny, und ich bedanke mich schnell, Und Sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden. Aber eines Abends wird ein Geschrei sein am Hafen Und man fragt, was ist das für ein Geschrei? Und man wird mich lächeln sehn bei meinen Gläsern, Und man sagt, was lächelt die dabei? Und ein Schiff mit acht Segeln Und mit fünfzig Kanonen Wird liegen am Kai. Man sagt, geh, wisch deine Gläser, mein Kind, Und man reicht mir den Penny hin, Und der Penny wird genommen Und das Bett wird gemacht, Es wird keiner mehr drin schlafen in dieser Nacht, Und Sie wissen immer noch nicht, wer ich bin. Aber eines Abends wird ein Getös‘ sein am Hafen Und man fragt: Was ist das für ein Getös? Und man wird mich stehen sehen hinterm Fenster Und man sagt: Was lächelt die so bös? Und das Schiff mit acht Segeln Und mit fünfzig Kanonen Wird beschießen die Stadt. Und es werden kommen hundert gen Mittag an Land Und werden in den Schatten treten,
Und fangen einen jeglichen aus jeglicher Tür Und legen ihn in Ketten und bringen vor mir, Und fragen: Welchen sollen wir töten? Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen, Wenn man fragt, wer wohl sterben muß. Und dann werden Sie mich sagen hören: Alle! Und wenn dann der Kopf fällt, sag‘ ich: Hoppla! Und das Schiff mit acht Segeln Und mit fünfzig Kanonen Wird entschwinden mit mir.
Songbeleuchtung weg. Schweigen, dann Klatschen und Lachen. MATTHIAS Sehr nett, ulkig, was? Wie die das so hinlegt, die gnädigeFrau! MAC Was heißt das, nett? Das ist doch nicht nett, du Idiot! Das ist doch Kunst und nicht nett. Das hast du großartig gemacht, Polly. Aber vor solchen Dreckhaufen, entschuldigen Sie,Hochwürden, hat das ja gar keinen Zweck. Leise zu Polly: Übrigens, ich mag das gar nicht bei dir, diese Verstellerei, laß das gefälligst in Zukunft.
Die (reale) Darstellerin der Polly (hier: Elisa Plüss in der Zürcher Inszenierung von Tina Lanik 2017, Pfauen) imaginiert in der (fikti- ven) Rolle der Polly eine neue Szene, die sie sich vor-stellt, imaginiert. Dazu verwandelt sie sich von der (fiktiven) Polly in das (fik- tive) Abwaschmädchen, in der sich (wie- derum) die (fiktive) Seeräuberin, die Jenny, versteckt. (eine weitere Ebene der Fiktion bzw. Imagination). Die Seeräuber-Jenny ist folglich eine Fiktion in der Fiktion in der Fiktion, zu vergleichen mit der Spiegelung eines Bildes im Spiegel, woraus sich unzäh- lige Ab-Bilder ergeben. Die Szene ist Parade-Beispiel für die EPIK, das Erzählerische im Theater Brechts. Sie erzählt den imaginären Aufbau einer imaginä- ren Vor-Stellung und spielt diese als Spiel im Spiel direkt vor. (A) Polly erzählt: ‚werde ich ein Mädchen nachmachen‘, und benutzt dafür den traditionellen Begriff des >Nachmachens< bzw. der Nachahmung (Mimesis). (B) Dazu baut sie die vorhandenen (rea- len) Bühnen-Requisiten um, indem sie ihnen eine neue Bedeutung zuweist: ‚So, das ist die kleine Theke‘; das Bühnenrequisit >Tisch< erhält die Bedeutung >Theke< (Umdeutung); in der Vorstellung entsteht ein neues Bühnenbild. (C) Die vorhandenen Darsteller der Räuber (Matthias, Walter) erhalten neue (fiktive) Rollen: ‚Wo Sie sitzen, saßen die Herren, die über sie lachten‘; sie stellen jetzt das Publikum der Kneipe dar. (D) Schließlich engagiert Polly sie noch als Mitspieler: ‚Jetzt sagt zum Beispiel einer von Ihnen … auf Walter deutend Sie – Na, wann kommt denn dein Schiff, Jenny?‘, und souffliert ihnen den Text (den sie nicht kennen können). ║║ Nach dem erneuten Umbau der Bühne erfolgt nun – quasi in einer Engführung, die sich nun ganz auf den Liedvortag konzentriert – als extra arrangierte Szene in der Szene die KUNST-Einlage (Foto: Nina Hagen). Der ästhetische Grundsatz lautet: Zeigt, dass Ihr zeigt.
8. Kunstkritik (fiktiv)
Auf den Kunstvortrag folgt Kunstkritik. Das Geschehen kehrt aus der Revue-Nummer wieder auf die (fiktive) Ebene der Handlung zurück. Die Räuber sind wieder Räuber und Polly ist wieder die Braut des Macheath, die dieser durch die Heirat >in Besitz< nimmt (besser: zu nehmen meint). Zum Beifall zur Nummer gesellt sich ihre Beurteilung sowie die Frage nach dem angemessenen Vokabular: ‚Das ist doch Kunst und nicht nett‘. Zugleich muss Mac er- kennen, dass die Kunst eine Möglichkeit bietet, der Realität Vor-Stellungen hinzuzufügen, die seinem Verständnis vom Verhalten in Gesellschaft widersprechen. Er erfährt, dass die künftige Ehefrau in der Lage ist, sich so zu verstellen, dass er, der Mann, nicht einzuschät- zen vermag, ob sie spielt oder ihn regelrecht vorführt und sich seiner Kontrolle entzieht. ║║▐ Als Kunstakt verweist die gesamte Szene darauf, dass es erst bewusste Kunst ermög- licht zu entscheiden, ob etwas real ist oder nicht. Es ist KUNST nötig, um realistisch zu sein und Realität zu erkennen. Das ist das grundsätzlich Neue am >epischen Theater<. Nachbemerkung zur Seeräuber Jenny und zu ihrem Lied: In der »Dreigroschenoper« gibt es drei Jenny’s: 1. Die Jenny Towler in der »Moritat«, die mit einem Messer in der Brust >ward gefunden<. 2. Die Spelunkenjenny des Bordells von Turnbridge, die Mac dreimal verrät. 3. Die Jenny im Lied des Abwaschmädchens, das die Seeräuber vorausgeschickt haben, um ihnen die rechte Zeit für den Überfall zu melden und dann zu entscheiden, dass sie Köpfe rollen.
Das Lied der >Seeräuberjenny< ist nicht, wie Kurt Weill sagte, »handlungstreibend«. Es führt die Handlung nicht fort und weist keinen Inhalt auf, der für den Verlauf der wei - teren Handlung wichtig werden könnte. Vielmehr unterbricht es die Handlung und zeigt auf eine bestimmte Haltung der Person. Diesen Effekt des Unterbrechens und des Zeigens von Haltungen unterstützt die Musik, deren Einsatz entsprechend vorbereitet wird: »Songbeleuchtung: goldenes Licht«. Der Vortrag wird durch einen Umbau der Bühne hier als Revue-Bühne neu eingerichtet. Die Schauspielerin verwandelt sich in eine Sängerin und nimmt eine >gekünstelte<, verstellende Haltung ein. Der Song im EPISCHEN THEATER stellt sich als abgeschlossene musikalische Form aus. Die Szene wird zur >Nummer<.
Als Brecht an die Verfilmung der Oper dachte und dazu ein Treatment anfertigte, strich er diese epische Musterszene vollständig und opferte mit ihr eines seiner Lieblingslieder. Dieses trug Carola Neher nach Brechts Melodie bereits 1926, lange vor Weills Neuarrangement des Songs, im Rundfunk vor und gab mit diesem Vortrag dem Lied die für Brecht gültige Interpretation. Mit diesem >Opfer< unterstrich Brecht seine Überzeugung, dass das Theater gegen den Film sein eigene Ästhetik behauptet und durchsetzt. Die Übertragung des Lieds in den >Dreigroschenfilmen< (1931 und 2018) auf die Bordell-Szene stellt eine Denunziation des Lieds dar und führt zu falschen Identifikationen.
BRECHTIANA SONG 01
BRECHTIANA Brechts 125. Geburtstag