03.September 2020

„es gibt heute den Medien-Rückkanal,

den sich schon Brecht gewünscht hat“

(Kathrin Passig / Sascha Lobo, „Internet-Vorreiter“; im Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung, bpb; 14. März 2013; https://www.bpb.de/dialog/156365/das-internet-segen-oder-fluch)





»Brecht gehört längst zur Weltliteratur, sein Rang […] ist unbestritten. Es bedarf keiner Prophetie, daß Brecht der >Goethe des 21. Jahrhunderts< werden wird.«

Das schrieb ich, Jan Knopf, 1984 im Brecht-Handbuch, als der Computer (PC) gerade auf den Markt gekommen, das Smartphone als Medien-Rückkanal noch auf seine Erfindung wartete und Literatur als »Bildungsgut« noch allgemein anerkannt war. Pech gehabt? Offenbar nicht, wenn wir Kathrin Passig und Sascha Lobo folgen wollen: Brechts Wunsch ist nicht nur in Erfüllung gegangen, seine Realisierung gehört längst zum Alltag der Menschen im 21. Jahrhunderts.















Brecht global

Bertolt Brecht auf einen deutschen Dichter oder Dramatiker, das heißt: auf Literatur, festzulegen griff schon immer zu kurz. Er war der erste deutsche Dichter überhaupt, der darüber nachgedacht hat, welche Rolle die Literatur in Zeiten spielen wird und spielen kann, die durch die neuen Medien geprägt sind. Zu seiner Zeit waren dies Zeitungen, Radio, Film, Fernsehen. Jetzt sind die digitalen Medien und die globale Vernetzung durch das Internet hinzugekommen. Die Grundsatzfragen jedoch hat Brecht mit seinen Werken bereits in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts gestellt, und sie fordern immer wieder zu neuen Antworten heraus:

1. Der (Welt-)Markt veränderte sich durch die Verschiebung der Regulierung von Angebot und Nachfrage hin zur künstlichen, das heißt: durch Werbung gesteuerten Steigerung der Nachfrage, mit der die Produktion gesteigert werden konnte (politisch: »Wachstum« genannt). Der Konsum bestimmt die Produktion. Produziert wird nicht, was gebraucht wird, sondern was Profit bringt. Verbunden ist damit: radikale Senkung des Gebrauchswerts – bis hin zur vorsätzlichen Manipulation der Produkte (bekannt unter dem Stichwort: »geplante Obsoleszenz“ = Beschränkung der Haltbarkeit). Das übergreifende Stichwort lautet: Fordismus. Einfacher Merksatz: »Wer Käufer findet, kann alles verkaufen.« – Brechts Gegenangebot, sein Schlüsselstück des 20er Jahre: Mann ist Mann (1925). Die (unterschlagene) Urfassung, die ich im Laufe dieses Blogs ohne Genehmigung der Brecht-Erben publizieren werde, behandelt das „Ende der Persönlichkeit“ auf dem Hintergrund der ersten globalen Ölkrise zwischen Dutch Royal Shell (England) und Standard Oil (USA).

2. Die Kommunikations- und Nachrichtenorgane (Zeitungen, Radio, Fernsehen) liefern, obwohl sie als »Kommunikationsorgane« definiert werden, nur noch schwer nachprüfbare und vielfach von Meinungen beeinflusste Fakten. Erkennbar wird dies an der aktuellen Sprachregelung: es „macht“ Sinn (oder auch keinen Sinn), statt es „hat“ Sinn. Die SinnMACHERN entgegenzuhalten, dass das, was sie sagen, keinen Sinn HAT, dazu kann Brechts Werk beitragen. Das Problem ist: Die Medien sind wirtschaftlich (und damit auch politisch) nicht frei, sondern müssen sich bereits seit dem 19. Jahrhundert – damals die Zeitungen als erstes Massenmedium – finanzieren über die Werbung (Anzeigen). Die Kommunikationsapparate sind zu Distributionsapparaten (Zerstreuungs- und Sensationsorganen) verkommen und können ihre Funktion nicht mehr oder nur noch bedingt erfüllen.

3. In Parallele kommt die zunehmende »Automatisierung« hinzu: Das Fließband wurde nicht erfunden, um den Menschen die Arbeit zu erleichtern, sondern um die Zahl der Arbeiter zu senken, weil Personalkosten höher sind, als funktionsfähige Apparate einzusetzen. Die „linke“ Politik, vertreten durch die SPD, ab 1919 auch durch die KPD, förderte diese „Entwicklung“, weil sie primär nicht für verbesserte Arbeitsbedingungen und humanes Wohnen eintrat, vielmehr verkürzte Arbeitszeit und mehr Lohn forderte: Mehr Geld und mehr Freizeit verhalfen dem KONSUM zu ungeahntem Aufschwung. Die weitere Folge war: Die im 19. Jahrhundert noch vorhandene »Arbeiterklasse« definierte sich nicht mehr über ihre Arbeit, die durch die Automatisierung nicht leichter, sondern einseitiger (und insofern schwerer: eintöniger, nervtötender) wurde, sondern über die Teilhabe am Konsum. Einfacher Merksatz: »Man ist, was man hat (gilt auch für frau).« – Brechts Gegenangebot: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1927/29): Gesteigerter und unkontrollierter Konsum führt zur Selbstvernichtung und schließlich um Untergang aller.

4. Das Selbstverständnis des Menschen (in demokratischen Gesellschaften), der als verantwortungsbewusster, freier und informierter Entscheidungsträger vorausgesetzt wird, hat sich grundlegend gewandelt. Die gesellschaftlichen Vorgaben durch eine technisierte Umwelt sind dermaßen selbstverständlich geworden, dass sie als „natürlich“ anerkannt werden (Kindergeschrei stört mehr als der ständige Verkehrslärm). Der Einzelne meint häufiger, als ihm lieb ist, frei zu sein und frei wählen zu können, wenn er gezielten oder einfach gesellschaftlich sanktionierten Manipulationen folgt, nur weil er sich an sie gewöhnt hat.

5. Die Digitalisierung bindet die Informationen zunehmend an Werbung wie auch die Fernsehfilme Reklame in der Handlung als so genannte „Produktplatzierung“ einsetzen (sinnlose Autofahrten, die nur dazu da sind, das Markenzeichen einzublenden). Das nannte man einmal (verbotene) Schleichwerbung. Der Einzelne wird nicht als Individuum geschätzt und geschützt, sondern als Konsument (im weitesten) Sinn eingesetzt und verplant. Das geht jetzt so weit, dass überlegt wird, die digitalen Medien zur Prävention von Verbrechen und so weiter einzusetzen, also die Einzelnen »dingfest« zu machen, ehe sie (als Verbrecher) tätig werden. Vergessen wird, dass jedes Kaufhaus durch die gezielte Präsentation der Waren, durch Musikberieselung (die der Publikumsmasse angepasst wird), durch Beleuchtung und so weiter und nicht zuletzt durch die Reklame, die häufig nicht danach aussieht, in ihrer Kaufentscheidung präventiv gesteuert werden und in der Häufung auch Erfolg haben. Einfacher Merksatz: »Ich lebe nicht, ich werde gelebt; es ist schon entschieden, ehe ich entscheide.« – Brechts Gegenangebot: Lesebuch für Städtebewohner (1926 bis 1930):

Und nicht schlecht ist die Welt

Sondern

Voll.


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