„Aus echtem Knopf wird falscher Müller“ oder Gemüllerter Brecht lebt! Ein moderner Klassiker 21.September 2020

Jan Knopf fragte "Was sagt uns der Dichter heute?" 1985 geschrieben, 1986 von Suhrkamp zensiert, 1990 fürs Volk publiziert, 2002 bei Suhrkamp zum Klassiker veredelt: Tod des Theaters mit Auferstehung Brechts. Vorhang transzendent und alle Fragen offen. Aus echtem Knopf wird falscher Müller. Niemand hat’s gemerkt.


So wirbt der Suhrkamp Verlag seit 18 Jahren für den Band 5 der Werkausgabe Heiner Müllers in 12 Bänden:

https://www.suhrkamp.de/buecher/werke-heiner_mueller_40897.html


Werke – Werke 5: Die Stücke 3

Herausgegeben von Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin

Redaktionelle Mitarbeit: Klaus Gehre, Barbara Schönig, Marit Gienke

Erschienen: 20.05.2002 / Taschenbuch, 360 Seiten / ISBN: 978-3-518-40897-1 / D: 33,00 €; A: 34,00 €; CH: 44,90 sFr

»Die Stücke 3« enthält sämtliche als Theaterarbeiten konzipierten Texte, die Müller zwischen 1978 und seinem Tod 1995 verfaßt hat. Darunter sind bekannte und zum Kern des Werkes zählende Stücke; außerdem werden bisher ungedruckte dramatische Texte zugänglich gemacht, die nur in Inszenierungen einen Weg in die Öffentlichkeit gefunden hatten. Stücke wie Philoktet 1979 waren bislang lediglich in Zeitungen publiziert und liegen hier erstmals in Buchform vor. Drei im Nachlaß gefundene knappe Szenen wurden ebenfalls aufgenommen.


[Nach Einspruch (Zum Briefwechsel) von Jan Knopf fügte der Verlag ab Mai 2020 hinzu:]

Bitte beachten Sie: Der Band enthält mit »Nachleben Brechts Beischlaf Auferstehung in Berlin« [S. 207-212] einen Text, der nicht von Heiner Müller, sondern von Jan Knopf stammt. Der Fehler wird in der nächsten Auflage des Bandes korrigiert

Hier das Stück, das 2002 in Müllers Werkausgabe erschien: „Nachleben Brechts Beischlaf  Auferstehung in Berlin“

Projektion

HAT EIN WEIB FETTE HÜFTEN TU ICH SIE INS GRÜNE GRAS ROCK UND HOSE TU ICH LÜFTEN SONNIG DENN ICH LIEBE DAS BEISST DAS WEIB VOR EXSTASE WISCH ICH AB MIT GRÜNEM GRAS MUND UND BISS UND SCHOSS UND NASE SAUBER  DENN ICH LIEBE DAS TREIBT  DAS WEIB DIE SCHÖNE SACHE FEURIG DOCH IM ÜBERMASS GEB ICH IHR DIE HAND UND LACHE FREUNDLICH DENN ICH LIEBE DAS - ER ASS WENIG TRANK WENIG UND FICKTE SEHR VIEL (Joseph Losey)

Schauspieler wird geschminkt (Brecht-Maske) und kostümiert (aber nicht Brecht-Joppe etc., sondern Bärenfell und Keule). Bühnenarbeiter türmen Trümmer, Unrat, verkohlte Leichen auf; Schauspieler hockt sich oben drauf, während die Bühnenarbeiter mit Schaufeln den Schutt weggraben. Verblasster Atompilz im Hintergrund.


SCHAUSPIELER:

Mein Name war Bertolt Brecht. Ich war - unter anderem - 58 Jahre alt. Ich habe zwei/drei Dutzend Hanswurste zur Moralität ausgetrocknet, eine Moralität, die mein Leben war. Ich habe den Theatern meine Modelle aufgeschwatzt, den Zuschauern Verfremdungen beigebracht, den Lehrer im Mao-Look verkleidet und den Leuten noch andere Vereinfachungen aufgedrängt, die sie nicht interessierten. Das ist nun vorbei. Ich hocke hoch über dem Wolkenkratzerdach, über den Knien den Bogen und halte Ausschau nach der Weihe, die ich ersehne, meinen hungrigen Magen zu füllen. Das Leben beginnt nicht mehr. Ich habe ein verbrauchtes Zeitalter nach dem andern absterben sehn, aus allen Löchern Freude, Zuversicht, Lachen dampfend jedes. Der Geschichte sind die Gäule durchgegangen, und die Menschen haben ausgetanzt. Schauspieler stürzt sich auf eine Weihe und verspeist sie stumm zum Abendmahl. Ich habe die Höhlen der Frauen von unten gesehn. Die Frau auf dem Schwanz Die Frau mit ihren beiden lächelnden Gesichtern Die Frau mit den aufgehnden Knien DIE SPALTE IST GEMACHT ZUM SPALTEN DIE SPALTUNG IST GEMACHT ZUM ZÜNDEN FEURIG DENN ICH LIEBE DAS. 40 Jahre lang habe ich versucht, mich mit Worten in die Abgründe zu bohren, habe Blut geschifft, mein defektes Herz ausgekotzt, Dualismen gepredigt, Eindeutigkeiten verteidigt und feuchte Schöße reihenweise trockengelegt. Dabei waren meine Worte immer stark, sinnlich, vital und böse. Mir steigen meine Worte wieder hoch, ausgegraben aus dem Schutt des letzten Kriegs, der immer noch nicht der letzte war. Bühnenarbeiter reichen Schauspieler mit der Schaufel Worte. Begraben, aber aufgehoben in den Betonhangars der Raketensilos. Immer mehr Worte heben sich auf. Bald werde ich wieder meine Stimme hören, die einzige, die noch übrig ist. Mein Kampf gilt nur mehr mir.


Der Geist Germanias tritt auf, stumm, zerzaust, häßlich, eine Vettel (bleiche Mutter) mit blutigem Rock; ihr Schoß geht über in den Mund.


SCHAUSPIELER:

Nenn eine Frau eine Fohse, und sie wird zur Fohse. Du bist eine Fohse geworden. Deine Ware Liebe hat fünf Erdteile glücklich gemacht. Du krochst heran auf neuen Krücken, die man nicht sah, und stankst nach neuen Dünsten der Beglückung, die man nicht roch. Die große Fohse kotzte und es klang wie FREIHEIT! und hustete und es klang wie GERECHTIGKEIT! und furzte und es klang wie WOHLSTAND! Erinnerst du dich der Niederkunft Goebbels' in HEINER MÜLLERS STÜCK GERMANIA TOD IN BERLIN? So geschieht dir jetzt, nachdem du auch diesen Untergang nicht auslassen konntest. Wenn deine schwere Stunde gekommen ist, ziehst du dich zurück mit deinen Beschälern und umgibst dich mit Ärzten und Wahrsagern. Ein Gewisper entsteht. Hineingehen gewichtige Männer mit ernsten Gesichtern und kommen heraus mit besorgten Gesichtern, die bleich sind. Auf der Straße versammelt sich Volk. Das erste, was zu hören ist, klingt wie ein gewaltiger Furz im Fahrstuhlschacht, gefolgt von einem gewaltigen Schrei FRIEDEN! Und in einem blutigen Leintuch wird ein quieckender Balg auf den Balkon getragen und dem Volk, das nicht mehr da ist, gezeigt unter Glockengeläute. Und es war der KRIEG. Und der hatte tausend Väter. Das ist deine Liebe.


 (Rolling Stones I CANT GET NO SATISFACTION).

DER GEIST FATZERS rezitiert:


Und die laufen hinter ihren Weibern her wie in alter Zeit mit einem so gierigen Ausdruck, als hätten sie keine andere Sorge, als auf sie hinaufzukommen. Das ist nicht gut. Sie sind nicht recht geschwächt genug, oder schlimmer: Sie sind blutige Zeiten gewöhnt. Alles geht nicht weiter. Aber das kriecht noch mit zermalmtem Kopf, zerquetschten Eiern und hängendem Schwanz auf ein rasiertes Loch zu. So lang sie das noch haben, ist ihnen alles recht. Das müsst man ihnen auch noch verstopfen.

 

BRECHT MIT KEUNERS GEIST, NAMEN AUF DEM KOSTÜM:

GEIST FATZER rezitiert:

Sie haben sich gar nicht verändert.


KEUNERS GEIST:

Oh. - Gibt den Bühnenarbeitern ein Zeichen; sie erschlagen Fatzers Geist mit den Schaufeln. Geist Keuners setzt sich den Fatzer-Kopf auf. Brecht rammt Germania die Keule in den Schoß. Germania singt das „Lied der Deutschen“. Bühne dunkel.

BAAL kriecht herein. Silhouette des zerstörten Groß-Berlin.

Das LAND ist verkommen. Die STÄDTE strecken ihre Gerippe austauschbar über die alte Landschaft. Das Wort NATUR kannst du ausstreichen. LUFT ist nicht mehr zu gebrauchen. Der MENSCH isst nur mehr Mensch. Die GESCHICHTE ist niedergekommen, und du hast das Delirium. Statt der hohen Konstruktionen nimmst du Ratten wahr. Der HIMMEL ist auch so verflucht fern. Hier drinnen muß es helle sein. Ich will hinein, hinein, hinein. Scheiß BAAL. Ich bin auch nur eine Ratte. Scheiß drauf, BAAL!

Kriecht auf allen vieren über die Bühne und fällt in den Orchestergraben. Brüllt von unten:

Ich bin mir nicht erspart geblieben.

(Musik: Iron Maiden CHILDREN OF THE DAMNED). Leuchtschrift auf dem Hochhaus am Alex BRECHT IST AUFERSTANDEN. Feuer! Beim Schlußakkord bricht das Theater auseinander, die Zuschauer flüchten. Das Theater fackelt ab.

                      Vorhang transzendent.

                             A.U.S.


Zu Risiken und Nebenwirkungen schließen Sie eine Lebensversicherung ab und fragen die Heilsarmee oder machen Sie ein Selfie.

    

Zur Textüberlieferung:

https://www.suhrkamp.de/buecher/werke-heiner_mueller_40897.html

https://www.internationale-heiner-mueller-gesellschaft.de/bibliographie




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