Legenden der „Dreigroschenoper“:  Erster Fall Das große Finale: Das Auftauchen des Reitenden Boten der Königin Wie sieht ein ordentlicher Opernschluss aus?

Opernhandlungen sind dünn bis dürftig, unlogisch und weit hergeholt, fixiert auf Arien, ob männlich, ob weiblich, und ohne nachvollziehbaren Realitätsbezug. Verbindlich ist nur der Schluss: Tod oder Leben in Form eines Happy Endings mit der Zusammenführung der Geschlechter. Kurz: Kitsch. Auch die „Dreigroschenoper“ ist Kitsch, freilich ein deftiger: „Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich / Den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frißt“, aber trotzdem immer wieder heiratet.


Wir gehen zurück ins Jahr 1928, in den sehr frühen Morgen des 31. August. Der Besitzer des Theaters am Schiffbauerdamm, Ernst Josef Aufricht hat Geburtstag und besteht auf der Einhaltung des Premierentermins. Eine Horde von egozentrischen Künstlern probt den Schluss.


Ort: Bühne und Zuschauerraum des Theaters am Schiffbauerdamm Zeit: 31. August 1928, 4 Uhr (morgens). Die Personen: (von links: Erich Engel / Harald Paulsen / Rosa Valetti / Erich Ponto / Roma Bahn / Kate Kühl / Helene Weigel / E. J. Aufricht) Folgende Alternativen des Schlusses sind in die Theatergeschichte eingegangen; zwei Beispiele: Berliner Ensemble DDR (23.4.1960) /  Regie: Erich Engel

Zwei Szenen-Bilder, die die Differenzen beider Inszenierungen besonders gut verdeutlichen:

Harald Paulsen im Kostüm des Macheath: Ja, was ist jetzt. Geh ich jetzt ab oder nicht? Schließlich muss ich das wissen bei der Premiere.

Brecht im Kostüm von Brecht: Also, ich habe dem Engel schon immer gesagt, dass das ein Quatsch ist, eine pfundschwere Tragödie ist das und kein anständiges Melodram.

Rosa Valetti im Kostüm der Celia Peachum: Ich finde diese Hängerei zum Schluss auch zum Kotzen.

Erich Engel im Regie-Anzug: So ist das Regiebuch geschrieben, und so bleibt es.

Paulsen mit blassblauer Krawatte: So? So bleibt es? Dann spielen Sie Ihre Hauptrolle gefälligst selber! Unverschämtheit!

Engel: Das ist einfach die Wahrheit, dass der Mann gehängt wird, selbstverständlich muss er gehängt werden, so ist das auf der Bühne. Basta!

Valetti: Basta?!

Erich Ponto im Kostüm des Jeremiah Peachum: Der versteht ja nichts vom Theater. Die Wahrheit!

Brecht: Die Wahrheit! Das ist auch so ein Blödsinn auf dem Theater! Wahrheit ist immer dann, wenn einem nichts mehr einfällt. Meinen Sie, dass die Leute hier acht Mark zahlen, damit sie die Wahrheit sehen? Sie zahlen ihr Geld dafür, dass sie die Wahrheit nicht sehen.

Ponto: Ja, also der Schluss muss geändert werden. So kann man das Stück nicht schließen lassen. So, und jetzt spreche ich im Namen aller Darsteller: so wird das Stück nicht gespielt.

Helene Weigel in Zivil: Das Pferd! Das Pferd! Es muss ja nur vom Schnürboden herunter; es ist alles vorbereitet.

Engel: Was ist vorbereitet?

Brecht: Das Pferd kommt oder das Stück wird nicht gespielt! Ohne das Auftauchen eines in irgendeiner Form reitenden Boten würde die bürgerliche Literatur zu einer bloßen Darstellung von Zuständen herabsinken. Der reitende Bote garantiert ein wirklich ungestörtes Genießen selbst an sich unhaltbarer Zustände und ist also eine conditio sine qua non für eine Literatur, deren conditio sine qua non die Folgenlosigkeit ist.

Das Pferd kommt!








(Scherenschnitt: Lotte Reiniger, 1928)


Engel: Kitsch. Ich will nichts zu tun haben mit dieser abgründigen Verlogenheit unserer Literatur.

Brecht: Die Geschmacklosigkeit der Massen wurzelt tiefer in der Wirklichkeit als der Geschmack der Intellektuellen.

Engel: Ja, dann müssen die Herrschaften ihren Dreck eben allein machen.

Ponto: Machen wir schon.

Paulsen: Wäre ja gelacht, wenn wir da nicht einen erstklassigen, allgemein befriedigenden Theaterschluss fänden.

Engel: Dieses Theater habe ich zum letzten Mal betreten! Ab.

Ernst Josef Aufricht ihm nachrufend: Würde der Herr uns das schriftlich geben?

Ponto sanft: Keine Feindschaft deswegen, keine Feindschaft!

Valetti: Also, gehen wir zehn Sätze zurück.

Paulsen: Nun, ich falle. Jetzt aber hören Sie meine letzte Bitte an Sie alle singt:


Ihr Menschenbrüder, die ihr nach uns lebt

Lasst euer Herz nicht gegen uns verhärten

Und lacht nicht, wenn man uns zum Galgen hebt

Ein dummes Lachen hinter euren Bärten.

Und flucht auch nicht, und sind wir auch gefallen

Seid nicht auf uns erbost wie das Gericht:

Gesetzten Sinnes sind wir alle nicht –

Ihr Menschen, lasset allen Leichtsinn fallen

Ihr Menschen, lasst euch uns zur Lehre sein

Und bittet Gott, er möge mir verzeihn.

Man schlage ihnen ihre Fressen

Mit schweren Eisenhämmern ein.

Im Übrigen will ich vergessen

Und bitte sie, mir zu verzeihn.


Ernst Busch im Kostüm des Smith: Bitte, Herr Macheath.

Roma Bahn im Kostüm der Polly, jammernd an seinem Hals: Einen Hochzeitstag habe ich nicht gehabt, aber das da habe ich.

Kate Kühl im Kostüm der Lucy: Wenn ich auch nicht deine Frau bin, Mac...

Paulsen: Meine liebe Lucy, meine liebe Polly, was immer auch zwischen uns vorgefallen ist, jetzt ist es zu Ende. Kommen Sie, Smith.


In diesem Augenblick fährt das Pferd vom Schnürboden, Ponto gelingt es, nachdem er merkt, dass es nicht auf der Bühne, sondern in den ersten Reihen landet, abzuspringen und setzt fassungslos und stotternd, dem Sturz des Pferdes zusehend, zu seinem Text an: Anlässlich der Krönung befiehlt die Königin, dass der Captain Macheath sofort frei... Bleibt mit offenem Mund stehen.


Brecht: Die Vergänglichkeit gehört zur Schönheit, sie erhöht den Genuss. Zu den fassungslosen Schauspielern: Wisst ihr, sie werden uns auspfeifen. Ich weiß es einfach. Teilt kleine Trillerpfeifen aus: Wenn sie beginnen, euch auszupfeifen, geht ihr einfach ins Rampenlicht und pfeift zurück. Ein Fotograf hat unterdessen Kurt Weill, der gähnend in der dritten Reihe sitzt, fotografiert. Brecht reißt ihm die Kamera aus der Hand: Weill darf nicht aufgenommen werden. Den falschen Richard Strauss will ich nicht auf dem Bild haben. Streckt den Fotografen mit einem Faustschlag zu Boden. Triumphierend sich umsehend: Heute Abend ist Premiere!

Das Ergebnis am Abend: Der Reitende Bote steht auf einem Misthaufen. 31. August 1928, 22.30 Uhr

Brecht sah vor, den Kitsch als Kitsch sozusagen leibhaftig mitten in die Zuschauer hineinfahren zu lassen, und zwar in Gestalt eines künstlichen Pferdes, das den Boten des Königs tragen sollte. Wie die voranstehende Szene zeigt, ließ sich das leider nicht realisieren. Das wurde allerdings erst am Morgen der Premiere erkannt, ziemlich spät also.

Da es von Brecht eine Variante des Schlusses nach John Gays Muster gibt, konnte der Herausgeber dieses Blogs, mit ihrer Hilfe den legendären Morgen am Tag der Uraufführung in seiner analogen Gestalt rekonsturieren. Fiktion und Realität greifen ineinander; die Bühne wird Spiel- und realer Schauplatz zugleich. Alle Beteiligten wirkten mit. Nur Kurt Weill musste sich mit einer stummen Rolle, sozusagen als Pantomime, begnügen, und Ernst Busch blieb lediglich eine Bühnenanweisung, sodass beide als „Nebenpersonen“ (offiziell überflüssiges Personal, so Thomas Mann in seinem letzten Roman „Der Erwählte“) aus dem Personenverzeichnis gefallen sind.

Thalia Theater Hamburg (13.9.2015) /  Regie: Antú Romero Nunes

Berlin, Hauptstadt der DDR: Große Ausstattung (Bühne: Karl von Appen), üppiger Naturalismus in der damaligen DDR, sogar das künstliche Pferd muss möglichst „echt“ aussehen, das heißt: auch das Künstliche musste natürlich >sein< (Kleinbürgertum). Schon 4 (in Worten: vier) Jahre nach Brechts Tod wurden seine ästhetischen Prinzipien im eigenen Haus verabschiedet. Man setzte auf Schau. // Hamburg, Tor zur Welt: Leere Bühne mit grasser Neonbeleuchtung (Bühne: Florian Lösche), blau-graue Töne im ironisch gefärbten Proleten-Look Brechts aller DarstellerInnen, nach dem Motto „Mir sind jede Farbe recht, die Hauptsache sie ist grau.“ Dafür als Schlusspunkt; bunte Kostüme und ein „ganz echtes“ Pferd mit Gefahr von Pferdeäpfeln (Weltbürgertum). Man setzte auf Sprache.


Hier noch zur Überprüfung: Der Text der Erstfassung des Schlusses (ohne den abschließenden Orgelgesang). Aufgrund von Sabotage durch DDR-Beteiligte an der Großen Brecht-Ausgabe (GBA) ist dieser Text – entgegen der Editionsprinzipien in der GBA nicht abgedruckt. Diese Fassung, die am 31. August 1928 der Uraufführung zugrundelag, ist 2004 erstmals wieder – nach dem Erstdruck in der Universal-Edition Wien-Leipzig 1928 – aus dem Material der ABB in Karlsruhe der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden und gilt jetzt als verbindlicher Text.



PEACHUM  Verehrtes Publikum, wir sind so weit.

Und Herr Macheath wird aufgehängt.

Denn in der ganzen Christenheit,

Da wird dem Menschen nichts geschenkt.


Damit ihr aber nun nicht denkt

Das wird von uns auch mitgemacht,

Wird Herr Macheath nicht aufgehängt,

Sondern wir haben uns einen anderen Schluß ausgedacht.


Damit ihr wenigstens in der Oper seht,

Wie einmal Gnade vor Recht ergeht.

Und darum wird, weil wirs gut mit euch meinen,

Jetzt der reitende Bote des Königs erscheinen.


Projektion: »Auftauchen des reitenden Boten«.


Nr. 20. Drittes Dreigroschen-Finale


CHOR  Horch, wer kommt usw.

Des Königs reitender Bote kommt usw.

BROWN  Anläßlich ihrer Krönung befiehlt die Königin, daß der Captn Macheath sofort freigelassen wird. (Alle jubeln.) Gleichzeitig wird er hiermit in den erblichen Adelsstand erhoben (Jubel) und ihm das Schloß Marmarel sowie eine Rente von zehntausend Pfund bis zu seinem Lebensende überreicht. Den anwesenden Brautpaaren läßt die Königin ihre königlichen Glückwünsche senden.

MAC  Gerettet, gerettet! Ja, ich fühl‘ es, wo die Not am größten, ist die Hilfe am nächsten.

POLLY  Gerettet, mein lieber Macheath ist gerettet. Ich bin sehr glücklich.

FRAU PEACHUM  So wendet alles sich am End zum Glück. So leicht und friedlich wäre unser Leben, wenn die reitenden Boten des Königs immer kämen.

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