Die Schlammgeborene Wo bleibt die Venus vulgivaga im neuen Dreigroschenfilm?

Am 30. Mai 2020 wird wieder der Weltuntergang sein. Da sich die Verkündigungen des nahen Endes überschlagen, die „Parallelen“ sich geradezu aufdrängen, rauschen wir doch in die neuen Zwanziger, in die „Golden Twenties“ –, muss noch eine kleine Erinnerung her, ehe wir auch dieses Jahr den Ausbruch des Volkans, auf dem wir tanzen, um ein weiteres verschieben. geben Unsummen aus, um ihnen das rechte Flair und die echten Kostüme zu verpassen, räumen, um ihre Atmosphäre »einzufangen«, den Berliner Alexanderplatz frei und holen uns aus dem Fundus die Modelle der elektrischen Eisenbahn, mit der wir schon lange nicht mehr so richtig gespielt haben, weil jetzt Far Cry in ist. Ist alles im Kasten, loben wir uns und verleihen uns erste Preise für beste Ausstattungen aus Steuergeldern. Nur eines verlangen wir nicht, dass sich die Darsteller, vor allem die Darstellerinnen – da beißen sich die finsteren Muster der Political Incorrectness fest – dem Authentischen fügen.- Auch dieses Jahr wurde er wieder um mindestens ein ganzes Jahr verschoben. Das hindert uns jedoch nicht, Parallelen zur Zeit von 1928 zu ziehen, konkret mit Film und Fernsehen das Chaos der wilden zwanziger Jahre als Warnung vor einem drohenden Untergang von heute in möglichst authentischen

Bildern zu inszenieren.


Die Charlotte Ritter, gespielt von Liv Lisa Fries, in Babylon Berlin muss sich zwar von ihrem Bruder frühmorgens bei der gewiss nötigen Morgentoilette – was für Serien dieser Art geradezu als kühne Sensation zu verbuchen ist – ein wenig anpissen lassen (Begründung: Morgenlatte, die der Knabe nicht im Griff hat), ansonsten hinterlässt ihre nächtliche Tätigkeit als adrette Domina in den Katakomben des MOKA EFTI keine Spuren. Nach diesem und jenem Wasserlass eilt die flotte Lotte frisch und munter ins rote Rathaus, um sich dort als Aushilfe bei der Sitte vorzudrängeln. Die Berliner Untergrundarbeiterin bleibt so smart wie das gleich lautende heutige Damen-Gefährt von Mercedes:

es passt wie das Wort überall hin.


Ab September 2018 soll diese Lotte, auch Charlie genannt, um eine Polly Peachum bereichert werden. Wir erinnern uns dunkel: das ist die hübsche Tochter des Bettlerkönigs Peachum aus dem Singespiel des John Gay, London 1728, die mit den hübschen Beinen und mit der netten Haut. Die kennten wir jedoch gar nicht mehr, hätte sie sich nicht ein Plagiator 200 Jahre später vor die schmale Brust genommen und mit der Musik eines Kurt Weill modern aufgepoppt.


Nach 90 Jahren Dreigroschenoper war es an der Zeit, endlich die Verfilmung auf eben den Markt zu werfen, der den damaligen Erfolgsleuten der Bühne den Zugang zum neuen Massenmedium Film verweigerte. Das Treatment, genannt Die Beule, abschwellend in den Dunkelkammern eines gewaltigen Werks, harrte des Rück-Blicks aus der Höhle, und siehe da, es ward Licht. Bertolt Brechts Erfolgsmarke kommt im Jahr der Herren 2018 nicht nur in Babylon Berlin völlig unvermittelt zu national-kulturellen Ehren, sie fährt auch kurz nach ihrem Geburtstag am 31. August in den Kinos auf eine zweite Hochzeitsreise ab (letzte Meldung: er soll schon auf dem 36. Münchner Filmfest am 28. Juni 2018 debütieren). Und die soll nicht nur im Bett ihre Jungfernschaft blutig opfern. Denn dem berühmten Haifisch, der, wie bekannt, die Zähne im Gesicht trägt, seien nun wieder, so das Versprechen der Macher, seine Reiß-Hauer implantiert, die ihm die finsteren Zeiten derweil frevelhaft ausgeschlagen hatten.


„Dazu tanzt das aktuelle Fernseh-Ballett aus irgendeiner Operettenkiste des Deutschen Fernsehpreises..“


Was uns erwartet, lässt sich einem kurzen Trailer, der seit einigen Tagen im Netz steht, mühelos entnehmen und auf den gesamten Film hochrechnen. Trailer sind ja sozusagen die Visitenkarten und sollen den ganzen Film knapp illustrieren. Polly sieht reizend aus, ihr Hintern ist unsichtbar unterm langen Kleid verhüllt und ihre rosa Pausbäckchen leuchten pfirsichzart. Als Mac an ihrem Nacken vorsichtig zupackt, fährt sie zwar ein wenig zusammen, schaut dann aber so rührend zu ihrem künftigen Bräutigam auf und mit ihren unschuldigen Rehäuglein in die Augen des künftigen Publikums, dass uns allen mit ihr zusammen das Herz aufgeht. Die Darstellerin heißt beinahe passend Hannah Herzsprung und ist ein Star; an ihrer Schönheit kratzt kein Makel.


Im nächsten Shot des Trailers finden wir das frisch gefundene Paar eng umschlungen in einem Boot mitten auf der Themse wieder. Die beiden Liebenden lächeln sich freundlich-verlegen in die frohlockenden Augen. Dazu tanzt das aktuelle Fernseh-Ballett aus irgendeiner Operettenkiste des Deutschen Fernsehpreises anmutig vor und auf und unter den blank geputzten Brücken des auf 200 Jahre alt getrimmten London. Wenn BB – »jetzt muß das Gefühl auf seine Rechnung kommen« – in der Beule sarkastisch zu dieser Szene anmerkte: »Ein bis zwei Monde genügen«, dann hätte dies für die filmische Umsetzung nur heißen dürfen: parallel zum grünen Mond, der ohnehin nur noch in der Lyrik Brechts Platz hatte, leuchtete Pollys entzückender Hintern anmutig über den Wassern von Soho. So lächelte sie wenigstens mit ihrem weißen Steiß lieblich doppelten Gesichts. Es könnte zur Sache gehen.

Für die Ausgangsposition des Films sah Brecht vor: Mackie Messer beschließt, ihn sehend, den Hintern, der da aufreizend vor ihm her wackelt, zu heiraten, aber nicht unbedingt die Frau dazu. Damit setzte Brecht die Zeichen für die ganze Handlung des Films. Es geht ans Eingemachte, und das ist da unten, wo man gewöhnlich nichts sieht. Deshalb muss es endlich ausgeleuchtet werden: lux in tenebris (so heißt ein früher Einakter BBs über Prostitution von 1919). Erleichternd käme hinzu: einen solchen zweiten, hinternen Mond, gut in Szene gesetzt, vergäße das geneigte Publikum nie. Freilich, woher ihn nehmen? Von den Darstellerinnen, den sich die Filmproduzenten von

heute ausgesucht haben, bekämen sie ihn nimmer.


Dass der Pfirsich sich, wie Polly im Dreigroschenroman durchgängig heißt, als ein wenig wurmstichig erweisen könnte, davon hätte bereits eine genauere Lektüre der Dreigroschenoper eine Ahnung geben können. Nicht umsonst hört Pollys Vater schon seit John Gay auf den Namen Peachum, neben »Pfirsich« altenglisch auch: der Verräter, der Hintergeher, der Menschenhändler, der sich seine Bettler zurecht schminkt, ehe er sie als der »ärmste Mann Londons« brutal ausbeutet, in der Sprache Brechts: »peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frißt«.


„Das wirkliche Elend darf kein Gesicht bekommen..“


Der Polly-Pfirsich, der nicht weit vom Ludenbaum fällt, ist einzig dazu da, mit seiner zarten Haut die Maden anzulocken, die in die süßen Früchte auf dem Tisch des Herrn kriechen wollen. In ihnen festgesaugt, stehen sie, die Allesfresser, als das beliebig knetbare soziale Material zur Verfügung, das als Opfer verkleidet die gesellschaftliche Ordnung aufrecht erhält. Pollys Verlust für das Geschäft durch die Heirat mit dem Gangster muss das Movens für die dürre Handlung der Oper bilden; er bedeutet, so will es die Oper, »dasselbe wie vollkommenen Ruin«. Das wirkliche Elend, das verschweißt und eingepisst unter den Brücken in Schlamm, Dreck, Kot, Unrat haust, darf kein Gesicht bekommen. Denn in diesen Gesichtern nistet die Gesichtsrose und der leuchtet noch nicht einmal ein einziger Mond.

Nicht anders sieht es mit dem eigentlichen »Helden« der Oper aus. Helden erfreuen sich inzwischen wieder hohen Ansehens und bestehen doch nur aus Leuchtpunkten, genannt Pixels, die im digitalen Glitter auf engstem Raum zusammengestaucht sind. Polly, von der versoffenen Mama gefragt, ob denn ihre neueste Eroberung auch »schön« sei, antwortet kleinbürgerlich angepasst, das nicht, aber er habe »sein Auskommen«. Im Dreigroschenroman (1933/34) wird – wie Polly zur Naschfrucht des Pfirsichs – der legendäre Mackie Messer endgültig zum Rettichkopf mit Eiterpickeln im Gesicht, gedrungener Figur, fettigem Teint und feistem Bauch. Brecht ahnte bereits bei der Besetzung der Uraufführung der Oper Böses und versuchte alles, den eitlen Operetten-Schönling Wolfgang Paulsen, den der Theaterchef Ernst Josef Aufricht gegen seinen Willen engagiert hatte, mit so viel Tand auszustatten,

dass er wenigstens lächerlich wirken könnte.























Der Trailer des Dreigroschenfilms deutet an, dass der zu erwartende Film dies im Fall des Mackie Messer wie auch seines zweiten Helden – des BB nämlich in person –, tunlichst vermeidet. Lars Eidinger, der meinen mag, den Brecht »in sich« gefunden zu haben, gibt sich so leutselig wie ein heutiger Politik-Darsteller, keine Ahnung, aber selbstüberzeugt: Seid froh, wenn ich eure bescheuerten Fragen überhaupt beantwortete, und wenn, dann von oben herab: »Die Dreigroschenoper ist der Versuch, der völligen Verblödung der Oper entgegenzuwirken.« Deshalb sollte Ihr Euch das Spektakel reinziehen und dafür zahlen.


Brecht, der vor allem in Künstlerkreisen verkehrte (Rudolf Schlichter; George Grosz, John Heartfield, Caspar Neher), verarbeitete mit dem Bild des Pfirsichs als dem entzückenden Hintern das zeitgenössisch aktuelle Stillleben des Man Ray. Er fand es im Restaurant von Max Schlichter, dem Bruder des Malers, in seinen »hinternen Räumen« vor (so die Schreibung auf der von Brecht mitunterschriebenen Einladung zum Schlichter-Ball von 1927). Es war der Pfirsich als das auf Weinblättern zubereitete Weibsstück, der zur Kunst gewordene weibliche Knallarsch. Seitdem war alles sexuell, sprich: zum Vernaschen konnotiert, importiert aus England (damals noch ein Welt-Imperium) und den USA, aufgehend in der Dollar-Sonne über Europa (da reichte eine Sonne) und beliebig multipliziert in den im Maschinentakt hüpfenden prallen Schenkeln der gesichtslosen Girls, verbunden mit den illusionären Einsichten in die ganz anderen unteren Regionen.

Und um die ging es dann vor allem.


Gegen diese Vermarktung der angeblich vom Muff der Kaiserzeit befreiten Frau schlugen Brecht und Weill – und das mit ungeahntem Erfolg – zurück. Sie kreierten die neue Frau, die Venus vulgivaga, die aus dem Schlamm der Gesellschaft geborene, griechisch Pandemos, berlinisch Nutte genannt, und zwar in zweierlei Gestalt: in der gutbürgerlichen Tochter des Geschäftsmann Peachum und in der geschäftstüchtigen Facharbeiterin Jenny. Beide sind denen, die sie bedienen, gefährlich. Nicht umsonst schlüpft Polly in die Rolle der Seeräuberjenny – an eurem Busen nährt ihr die Schlange –, und nicht umsonst übernimmt die Nutte den Part des zeitgemäßen Judas – dreimal wird sie ihn, den miesen Helden der Geschichte, verraten und an den Galgen bringen.


Dass das System noch nicht reif war für den Fall und der jedes Jahr neu beschworene Weltuntergang immer wieder verschoben wurde – für ein paar Jahre (heute: Vogelschiss genannt) –, kann nur der deus ex machina lösen, hier in der Gestalt des Boten der Königin, der das System noch einmal mit faulem Zauber rettet, heute die berühmte Null, die digital mit der 1 hochgerechnet wird, jedes Ergebnis ihrer quasi unendlichen Algorithmen-Reihen rechtfertigt und die im Dunkeln immer noch nicht sieht. Brecht bestand darauf, den Gott der neuen Techniken des Kapitals auf einem Holzpferd in die Szene reiten zu lassen; was dann leider aus technischen Gründen nicht umsetzbar war: Der schwere Gaul hätte womöglich ein paar Zuschauer in der ersten Reihe erschlagen.


Den Begriff der »Vulgivaga« (bitte nicht an »Vulva« denken, meint: die Umherschweifende) brachte der (sehr) bürgerliche Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt ins zeitgenössische Gespräch. Er verkündete die neue Aphrodite im Juni-Heft 1929 der Zeitschrift Uhu im mächtigen Ullstein-Verlag (Spitzenauflage in dieser Zeit: 200.000 Exemplare) und erklärte Die Dreigroschenoper als erstes »Kunstwerk der Gattung«. Aus und vorbei sei es mit dem albernen Gejaule um die gefallenen Mädchen, die aus dem Dreck gerettet werden wollen, wie dann noch (immer weiter) der »blaue Engel« im gleichnamigen Film nach Heinrich Manns Professor Unrat. Die »ethischen Krücken, wurmstichig schon seit geraumer Zeit, sind endgültig zerfallen. […] Die Nutte in ihrer reinsten Form sehnt sich nicht; bürgerliche Welt, Moral, Gott sind ihr unbekannte Begriffe; […] sie ist die real gewordene Geschlechtlichkeit […], und die Gemeinheit ist ihr Selbstzweck«.


Seit 1922 spätestens betritt die – in der umfangreichen Brecht-Literatur übersehene – Tänzerin Valeska Gert die knarrenden Bretter von Brechts Weltbühne, zunächst im Satyrspiel Die rote Zibebe, das Brecht als ironischen Kommentar zu Trommeln in der Nacht mitternächtlich in großer Besetzung (Karl Valentin, Joachim Ringelnatz, Klabund u.a.) dem ratlosen Publikum darbot. In dieser Revue legte »Draculas Tochter« (Hans Sahl) ihren berühmten Grotesktanz Die Canaille hin. Mehrfach sah Brecht sie für Rollen in seinen Stücken vor (so für die Sophie in Baal 1926); 1927 sorgte sie in der Nacht der Sportpresse (Ufa-Palast Berlin) für aggressive Pausen neben satirischen Vorträgen von Brecht-Texten durch Fritz Kortner mit ihrer Schau-Einlage Boxen für Schauer im Publikum, und nicht zuletzt bereitete ihr Todestanz 1929 auf dem Baden-Badener Kammermusikfest den nötigen Skandal vor, der dem Lehrstück von Hindemith und Brecht den Todesstoß versetzte und das Festival als Ganzes cancelte.






















Valeska Gert war klein, pummelig, hatte dicke Schenkel, einen ausladenden Hintern und kleinen Busen, den sie als weiße Rundung markierte, damit er nicht ganz verloren ging. Sie trug ein körperlanges schwarzes Trikot, schminkte ihr Gesicht kalkweiß, die Lippen dick knallrot und umrandete die Augen mit dunklen Schatten so, dass diese wie in schwarzen Löchern lauerten, um dann regelrecht auf das Publikum einzustechen. Tanzte sie, dann öffneten sich ihre Lippen, spreizte sie ihre gewaltigen Schenkel und begann die Hüften aufreizend zu kreisen. Das Becken zuckte in fordernden Stößen. Lustgestöhn drang aus ihrem dunklen Schlund. Ihr Tanz sprang den Leuten buchstäblich in die Visage. Laute Empörung, einige Ohnmachten, Rufe nach der Polizei.


„..eine peinlich-direkte Herausforderung, deren Anblick bereits

nicht zu ertragen war..“


Ansatzweise wäre zu bemerken gewesen, dass hier die Kunst in der Gestalt einer höchst lebendigen »Mumienkeilerin« (Kurt Tucholsky) dem Publikum auf, wenn nicht in den Leib rückte. Der Sinn ihrer Nummern war, die – schon kaum mehr wahrgenommene – Gewalt der neuen Maschinen, die die Revuen und Operetten der Zeit in funktionstüchtigen, rhythmisch gleichgeschalteten Menschenteilen auf die Bühnen brachten, in der lebendigen Herausforderung des geschundenen Körpers vor Augen zu stellen, eine peinlich-direkte Herausforderung, deren Anblick bereits nicht zu ertragen war – und doch als scheinbar entrücktes Abbild der Apparate, die alles schön zeichneten, täglich in den Medien als Konsumartikel angeboten wurden.


Brecht nannte die neue Art des menschlichen Erlebens, handfest und körperschwach in den Materialschlachten des 1. Weltkriegs erfahren, das »Apparaterlebnis«. Die Nutte in der Gestalt der Canaille zeigte den geilen Herren der neuen, scheinbar freien und demokratischen Gesellschaft auf dem Weg in den Faschismus, was eine weibliche Harke sein könnte, setzte sich sie gesellschaftlich durch. Im Theater am Schiffbauerdamm betrat sie am 31. August 1928 wenigstens die Bühne des Theaters als die Gegenfigur zu Alles nackt!, zur gleichzeitigen Erfolgs-Revue des James Klein in der benachbarten Komischen Oper.


Nur, was Brecht und Weill beim Erfolg der Oper nicht einplanten: Die Unterhaltungsindustrie war bereits in der Weimarer Republik bei allem Widerstand der Vertreter der so genannten hohen oder ernsten Kunst so weit fortgeschritten, dass sie auch diese provokative Kröte ohne weiteres schluckte, mit ihrer Vermarktung nämlich. Brecht war es, der zwar seinen Stoff (den er geklaut hatte) verkaufen, jedoch dessen kritische Potenz retten wollte und deshalb auch juristisch gegen die Filmindustrie antrat. Er benutzte dazu ausgerechnet das Mittel, der die zeitgenössische Justiz – die Gesetze hinkten den Realitäten hinterher – nicht gewachsen war, das Urheberrecht, das dem Einzelnen, dem schöpferischen Individuum, das ausschließliche (und vererbbare) Recht über seine Verwertung sicherte. Das Problem ist bis heute trotz Massengesellschaft und Volkskunst (jeder Mensch ein Künstler) nicht gelöst, wäre aber auch ein neues Thema. Die aktuelle Verfilmung, die den Dreigroschen-Prozess als Real-Handlung des historischen Brecht vorsieht, deutet diesen Grundwiderspruch der Moderne (und allen ihren Untergangs-Post-Erben) noch nicht einmal an.


Den traurigen Schlusspunkt im Trailer setzt Lars Eidinger alias »Bertholt Brecht«. Noch nicht einmal den Namen schreiben die Verantwortlichen des SWR in ihrer offiziellen Präsentation der beachtlichen Liste der Mitwirkenden korrekt. Eidinger alias BB himself kommentiert in einer für Brechts Theater typischen Publikumsansprache – Achtung: Ihr versteht es eh nicht – selbstironisch: »Wer die Handlung nicht gleich begreift, braucht sich nicht den Kopf zu zerbrechen, sie ist unverständlich. Wenn Sie etwas sehen wollen, was einen Sinn macht, müssen Sie auf das Pissoir gehen.«


Mal abgesehen davon, dass der Film offenbar für Damen nicht geeignet ist – wie wär‘s mit dem Hinweis der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK): »Keine Damenfreigabe« –, täuscht der sprachliche Fehlgriff, wie gehabt, über mangelnde Sachkompetenz hinweg und lenkt mit einem billigen Gag zudem von den Missständen ab, die er doch angeblich zeigen will. Dieses – heute sicher akzeptable – Englisch-Deutsch (»Sinn machen«), eingebürgert durch eine Politik der Gewissenlosigkeit, als Schlusspointe eines Films, der beansprucht, dem Publikum ins Gesicht zu springen, verabreicht sich selbst unbedacht eine schallende Ohrfeige und jubelt zudem den Misston auch noch dem sprachgenauen armen BB unter, als ob sein Deutsch so schlampig wäre wie die ungenauen Zitate des Drehbuchautors.


Bei Brecht steht: »Wenn sie nur etwas sehen wollen« – die Ausschließlichkeit macht die Sache verbindlich und zielt auf die traditionell verkopften Hirne der (deutschen) Literatur- und Theaterkritiker – und es heißt selbstredend: »was einen Sinn hat« – das schießt gegen alle, die keinen Spaß verstehen, weil sie auch noch da Sinn einfordern, wenn ihnen ihr eigener Wahnsinn vorgeführt wird – nach dem Muster: die Opfer müssen auch Sinn gehabt haben, sonst schlafen wir schlecht.


Der Spruch stammt übrigens aus Brechts Erfolgs- und Schlüsseldrama Mann ist Mann, das drei Jahre vor der Dreigroschenoper lag und seinen Autor längst zum Medien-Star gemacht hatte, bevor er mit Kurt Weill die Zusammenarbeit begann. Das dem früheren Stück angehängte Satyrspiel führt einen irrwitzigen Elefantenkauf vor. Chaplinesk– es lässt sich kaum anders formulieren – verarscht es den schon damals bekannten und heute wieder vergessenen Konsumterror als absurden Handel um Leerverkäufe, wie sie heute heißen – mit für die Opfer tödlichen Folgen und prächtigem Gewinn für die Sieger. Zum schlechten Schluss schickt Regisseur im Spiel seine Spieler zum Boxkampf, wo es (angeblich) ehrlich zugeht.


Tänzerin Valeska Gert: „Laute Empörung, einige Ohnmachten, Rufe nach der Polizei.“

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