05.September 2020 Ein Stunt des Realismus Warum Bertolt Brechts berühmter Autounfall eine Inszenierung war Ein l ehrreicher  Brecht-Autounfall: „Der  Feind des Automobilisten, des   Fußgängers, überhaupt  des  Verkehrs, ist der wilde Fahrer.“

Eine Rekonstruktion von Jan Knopf


Der Straßenwärter an der Fernverkehrsstraße 27, Teilabschnitt Göttingen-Fulda, meldet am 20. Mai 1929, Pfingstmontag, einen schweren Unfall bei Hünfeld, kurz vor Fulda. Wetterlage: kühl, Sonne und Wolken im Wechsel, die Straße trocken. Die Strecke ist berüchtigt für ihre Unfälle. Die Straßen sind verdreckt, verkotet und wasserdurchflossen. Solide Buchen stehen in Reih und Glied an den Rändern. Pflaster wechselt mit Schotter. Asphalt gibt es nur gelegentlich vor Ortseinfahrten. Solche Landstraßen sind zum Rasen nicht geeignet. Der PKW, ein Steyr-Cabriolet Typ XII, sei, soder Bericht des Postens, mit 70 km/h viel zu schnell gefahren und habe abrupt bremsen müssen. Folge: Totalschaden. Der Fahrer verletzt, bewusstlos. Dieser soll, als er wieder zu sich kam, wie einer Eingebung folgend, gemurmelt haben: „Das wird ein Fall für Realismus. Ich muss immer dichten!“ Der Verletzte, so notierte der Beamte pflichtbewusst den Namen: Bertholdt Eugen Brecht.


William Joseph Donovan, Boss der OSS,des Office of Strategic Services beim Kriegsministerium der USA, genannt „Wild Bill“, gab Anfang Mai 1944 seinen Londoner Agenten Scrivener und Langer Anweisung, sich über einen gewissen Bertolt Brecht zu informieren. Ihm, Bill, sei zu Ohren gekommen, dieser Poet habe sich zur Zeit der Republik einen Namen gemacht als „der beste satirische Schriftsteller auf der deutschen Bühne“. Einen solchen Mann brauche er jetzt bei „Radio Calais“. Thomas Mann sei zu seriös, um an Lucy Mannheims Lili-Marleen-Persiflage ranzukommen. Aber auch die reiche nicht mehr aus gegen die Durchhaltepropaganda der Nazis. „Pep“ sei notwendig. Die Krauts müssten endlich auf ihren Führer scheißen, so sagte Donovan ziemlich wörtlich. Der „Brekkt“ oder wie der heiße hole mit seinen Liedern selbst die Toten wieder aus ihren Grablöchern. Der habe die richtigen Kaliber.


Im Monatsmagazin „Uhu“ erschien im November 1929 ein nicht gezeichneter Artikel mit dem Titel „Ein lehrreicher Autounfall“. Mit Aufnahmen für den „Uhu“ von A. Stöcker. Er erstreckte sich über zwei Doppelseiten mit sechs Fotos und war mit der Bemerkung versehen: „(Die Rekonstruktion des Unfalls erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Steyr A.-G.)“. Der „Uhu“, in Form der Eule zugleich Logo des Verlagshauses Ullstein, stand für fortschrittliche und kritische Kultur in der Weimarer Republik, hatte sich zu dieser Zeit als Aushängeschild eines anspruchsvollen Massenmagazins emporgearbeitet, glänzte mit einer Auflage von 211.400 Exemplaren, so nach den Ullstein-Berichten (Ausgabe Oktober1929), und erreichte hochgerechnet ein Millionen-Lese-Publikum (es gab bereits Lesezirkel).


„Der Feind des Automobilisten,

ist der wilde Fahrer“


Der Bericht interessiert sich jedoch nur am Rande für den realen Unfall bei Hünfeld. Vielmehr benutzt er ihn als eine Form der Brecht’schen Parabel, um das neue Verkehrsphänomen, nämlich das Rasen, zu geißeln: „Der Feind des Automobilisten, des Fußgängers, überhaupt des Verkehrs, ist der wilde Fahrer“, und der, so der Eingang des Berichts, sei „fast an allen Verkehrsunfällen schuld“. Um ihm zu begegnen, habe man in England den „Boulevard-Stop“ eingeführt. Er verhindere „von vornherein 50 Prozent aller Unfälle“: Die aus den Nebenstraßen einbiegenden Fahrer zwinge er zum Anhalten, damit dem schnell fahrenden Verkehr auf den Boulevards freie Fahrt ermöglicht würde. Das wäre also die Erfindung der Vorfahrt für die Raser gewesen. Mit dem „für viele Auto-Unfälle typischen Unfall“ des „Dichters Brecht“ im „Uhu“ hatte das freilich wenig zu tun.


Da verhält es sich nämlich so. Ein wilder Fahrer (Cadillac) überholte einen Lastwagen so, dass für den Wagen des umsichtigen Automobilisten Brecht (Steyr) kein Platz mehr geblieben wäre: Er [Brecht] steuerte seinen Steyr auf der Straße nach Fulda im 70-Kilometer-Tempo. Die Straße war gar nicht so schmal, aber auf seiner Seite schoss hinter einem entgegenkommenden Lastwagen ein Wagen, der viel stärker war als der seine, überholend vor, ohne sich vorher überzeugt zu haben, dass ein anderer Wagen (Brechts Wagen) ihm entgegenkam. Für Brecht war die Lage außerordentlich gefährlich: nach links konnte er wegen des Lastwagens, der sich auch in ziemlicher Fahrt befand, nicht ausweichen, rechts standen Bäume, und hinter diesen Bäumen fiel die Straße ungefähr 5 Meter in einer Böschung ab. Brecht hatte zwei Möglichkeiten: einmal, die Böschung hinabzufahren und sich im offenen Wagen mehrmals zu überschlagen oder im 70-km-Tempo gegen einen Baum zu fahren und zu zersplittern. Brechts Wagen war also gezwungen, auszuweichen, und Brecht vermochte, die Bremsen mehrfach stark anziehend und sofort wieder öffnend, auf den ihm zunächst erreichbaren Baum aufzufahren. Es gelang ihm, genau mit der Mitte des Kühlers den Baum zu treffen und so den Wagen abzufangen. Der Kühler zerbrach, und die aufstoßende Vorderseite des Chassis bog sich ringförmig um den Baum, aber sie hielt den Wagen auch zugleich fest. Das Ergebnis waren nur unbedeutende Verletzungen.


In dieser Version, je nachdem, wie ausführlich der Quellentext zitiert oder paraphrasiert wurde, findet sich der Unfall in der Literatur über Brecht wieder, und dies seit 1929, also ein Erfolgsbericht. Zu beweisen war zum einen: Brecht gehörte nicht zur Sorte der wilden Fahrer, zum anderen: Die Steyr-Wägen, wie Brecht zu formulieren pflegte, sind so außerordentlich robust, verkehrs- und unfallsicher gebaut, dass keine andere Automarke mithalten kann. Der Hintergrund: Die große Waffenschmiede Steyr aus Österreich drängte in den Friedenszeiten auf den deutschen Markt und wollte die boomende Autobranche kräftig aufmischen nach dem Wahlspruch: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“.


„Schweigepflicht zum Preis eines

fabrikneuen Kabrioletts“


Der schlaue Brecht hatte das erkannt und zauberte aus dem Verlust einen satten Gewinn: Der Bericht im „Uhu“ brachte ihm nicht nur als Reklameprämie einen neuen Steyr ein, er stieg auch eine Klasse höher: Aus dem alten Modell XII wurde ein XX (Gläser-Kabriolett) der neuen Baureihe bei Steyr, die Ferdinand Porsche entworfen hatte. So weit, so ungewöhnlich für einen Dichter, der sich auf fachfremden Terrain tummelte und noch dazu sich als Kapitalismuskritiker mit großzügigen

Werbegeschenken kaufen ließ.






























Natürlich gab es auf Brechts Coup die zornigen, hämischen oder spöttisch-zustimmenden Reaktionen. Elias Canetti bemühte, als das eine Extrem, für Brechts Autoprahlerei die Volksreligion: „Das war für mich, als käme es aus dem Munde des Teufels; man schrieb nicht für Zeitungen, man schrieb nicht für Geld, für jedes Wort, das man schrieb, stand man mit der ganzen Person ein“. Der Brecht -Chronist Werner Hecht erhob, als das andere Extrem, den Unfall zum „Lehrstück“ und das Opfer spöttisch zum ersten „Dummy“ in der Geschichte des Automobils. Nur die angeblich unbedeutenden Verletzungen, merkte er an, bedürften „einer kleinen Korrektur“: Brecht habe wegen eines Kniescheibenbruchs zurück nach Berlin gemusst. Aber das mitzuteilen hätte „das Loblied auf das so verkehrssichere Auto“ doch zu sehr geschmälert. Fazit: „Schweigepflicht zum Preis eines fabrikneuen Kabrioletts!“ So also der bisherige Stand der Ermittlungen.


Das „beschriebene Ausweichmanöver des braven BB“ - ein Fake


Schreiben kann man bekanntlich viel. Die sechs Fotos der „Rekonstruktion“ hätten freilich schon bei den Zeitgenossen, von denen kein Widerspruch zu lesen oder zu hören war, einige Fragen aufwerfen müssen. Die Fotos I-IV zeigen die Fahrzeuge vor dem Unfall in etwa aus Brechts Perspektive – in etwa deshalb, weil ein „Brecht“ als Dummy im Wagen sitzt und wir als Betrachter mit ihm auf die entgegenkommenden Gefährte sehen, auf den Lastwagen, der die linke Straßenseite einnimmt, und auf den Personenwagen, ein Raser, der nur einen Frontalzusammenstoß zuließe –

oder eben das beschriebene Ausweichmanöver des braven BB.


Damit sich die geneigte Leserin die Sache auch möglichst sinnlich vor Augen stellen kann, stehen die Fotos der aufeinander zurasenden Feind-Parteien (= höchste Gefahr: Frontalcrash) buchstäblich Kopf, sodass man das Blatt wenden muss, um die ganze Szeneriein ihren Ausmaßen erfassen zu können. Und siehe: Das ist verdammt knapp. Toll, wie der Bursche reagiert hat, alle Achtung.


Bei dieser Sorte von Montage hätten sich schon damals Zweifel rühren können; denn sie zeigt die Autos aus so geringer Distanz aufeinander zufahren, dass – und dies bei 70 km/h – eine Reaktion, wie sie der Text beschreibt, nicht mehr möglich gewesen wäre. Rechne ich großzügig nach dem Foto I die Strecke bis zum möglichen Zusammenprall, dann ergäbe sich –sie fahren ja aufeinander zu (mit ähnlichen Geschwindigkeiten) – höchstens ein Abstand von 30 Metern. Nach den üblichen Berechnungen von Reaktionszeit und Bremsverzögerung resultiert aus diesen Werten im optimalen Fall eine Aufprallgeschwindigkeit (stehenderBaum) von mindestens 50 km/h, entsprechend einem freien Fall aus 10 Metern Höhe. Schon bei nur 20 Metern Abstand führe der Wagen mit voller Geschwindigkeit direkt in den Baum hinein, entsprechend einer Fallhöhe von 19,3 Metern (= 6. Stock). Bei den damals üblichen Verschraubungen wäre der Motor entweder aus dem Auto geflogen oder hätte bei Brechts Treffgenauigkeit (Mitte!) den Motorblock ins Auto gedrückt und den Fahrer

(= Brecht) in einen Fleischklumpen zermalmt.


„Das schärft den Blick für weitere Ungereimtheiten.“


Sehen wir uns das Foto VI an. Das dort abgebildete Auto „umschlingt“ mit den vorderen Rahmenauslegern (ohne Stoßstange) den Baum. Die Scheinwerfer sind nur leicht eingeknickt, an der Motorhaube sind keine Schäden zu sehen, selbst die Kotflügel sind weitgehend intakt und die Räder noch fest am Wagen. Das schärft den Blick für weitere Ungereimtheiten. Der Wagentyp entspricht nicht dem des Unfallautos. Offenbar stand kein Steyr XII mehr für die Rekonstruktion zur Verfügung. Ein weiterer sichtbarer „Fehler“ ist das Nummernschild. Im „Uhu“ weist es die Nummer „IA26225“ aus, Brechts Unfall-Steyr hatte jedoch die „IA 26205“, was alles im Vergleich zu den gängigen Fotos bzw. Filmsequenzen leicht zu überprüfen gewesen wäre. Erschwerend kommt hinzu, dass der alte Steyr, eines seiner wichtigsten Kennzeichen, eine vertikal getrennte Frontscheibe hatte, wohin gegen die „Uhu“- Ausführung bereits sehr deutlich die horizontale, hochklappbare Version aufweist. So wage ich auch zu behaupten, dass Brecht bei der Rekonstruktion nicht dabei war; denn die Form seiner Mütze entspricht nicht der der Zeit, der Hals des offensichtlichen Doppelgängers ist ein wenig zu kurz und die Ohren zu eng anliegend. Aber das sind nur Marginalien.


Entscheidend ist, dass an dieser Rekonstruktion am Ende überhaupt nichts stimmt. Da Brecht zur Prominenz gehörte, blieb der Unfall in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt. Das maßgebliche "Wolffs Telegraphische Bureau" (W.T.B.) mit Sitz in Berlin funkte sofort, nachdem es offiziell unterrichtet war, folgen-de Nachricht durch den Äther: „Der bekannte Dichter Bert Brecht verunglückte bei einem Autounfall während der Pfingstfeiertage in Thüringen schwer und verletzte sich nicht unerheblich. Sein Wagen wurde, als Brecht vor einem Hindernis stark bremsen mußte, von einem hinter ihm herkommenden schweren Wagen angefahren. Er erlitt schwere Knochenbrüche und Schnittwunden im Gesicht. Er wurde nach Berlin gebracht.“


„Eine perfekte Kollektivarbeit“ von Medien und Industrie


Diese Meldung wurde unter nur gering abweichenden Überschriften, zum Teil auf der Titelseite, als „Schwerer Autounfall Bert Brechts“ in diversen Zeitungen am 22. Mai1929 abgedruckt und erschien mit unerheblichen Modifikationen in „Der Tag“, Wien, in „Das kleine Blatt“, Wien, in „Kleine Volks-Zeitung“, Graz, und schon am 21. Mai in der Abendausgabe der „Vossischen Zeitung“ (Ullstein Verlag). Der „Lehrreiche Unfall“ im „Uhu“ ist also nicht nur ein Fake und damit ein Fall für Brechts Inszenierungskünste in Sachen „Realismus“ (mit realen Darstellern), er ist vielmehr vor allem ein schlau eingefädeltes Reklamemanöver der Steyr-AG in Reaktion auf den ersten „Welt - Reklame- Kongreß“, der vom 8. August bis zum 9. September 1929 in Berlin stattfand.


Der „Uhu“-Bericht über Brechts Unfall war eine perfekte Kollektivarbeit eines herausragenden Teams und markiert einen raren Meilenstein des wahren poetischen Realismus in der Weltliteratur. Beteiligt waren der Redakteur der Monatsschrift „Uhu“, Peter Suhrkamp, der für die Endredaktion zeichnete, die durch ihr Stück „Happy End“ bekannte Schriftstellerin Elisabeth Hauptmann, die die geschäftlichen Verbindungen verwaltete, der erfolgreiche Bildjournalist Alexander, genannt: Alex, Stöcker, Werbefotograf für „Metropolis“ von Fritz Lang, der die Choreografie des Auto-Ensembles arrangierte und dokumentierte, mehr indirekt, aber zielsicher Ferdinand Porsche, Chefkonstrukteur bei Steyr seit 1929, der seinen neuen Steyr XX (Chassis) als modernen Mittelklassewagen zur Serienreife gebrach thatte und dringend Reklame für seinen Edelentwurf benötigte, Rudolf Siegwart, Banker, Vorsitzender der Steyr-Hausbank „Creditanstalt - Bankverein“, Wien, der die Inszenierung finanzierte, sowie schließlich der Dichter Bertolt Brecht, der, wie das berühmte Foto im Augustheft 1927 des „Uhu“ (Arbeitssitzung bei Brechts, Berlin, Spichernstraße 16) zeigt, die Hände in den Hosentaschen, von Weitem mit entstellendem Grinsen Regie führte.


Nicht verschwiegen sei, dass die Werbemanager von Steyr bereits so klug waren, noch ein Zeichen zu setzen, das erst dem digitalen Zeitalter vorbehalten schien. Sie klebten auf die hintere Ladeklappe des (kleinen) Lastwagens LKW XVII, des neuesten Steyr-Modells, das, gerade wie der XX auf den Markt gekommen, Hanomag (Hannover) herausfordern sollte, das Logo ihrer Firma als „Produktplatzierung“, das so nie zum Produkt gehörte. Sie fiel – das war ihr Sinn – bisher niemand auf, gehört sie doch als Schleichwerbung zur geheimen Kriegsführung des „freien Markts“, und dies war zielführend zwischen „Welt-Reklame-Kongreß“ im Sommerloch und Weltwirtschaftskrise im Katastrophenherbst 1929.


Ja, und was hat das alles mit der "OSS" zu tun? „Wild Bill“ Donovan ließ sich, nachdem er von Samuel Scrivener das Dossier mit Datum des 17.Mai 1944 über den deutschen Dichter erhalten hatte, vom Urteil des beauftragten Psychologen Walter Langer erweichen. Langer meinte, „the german guy“ sei doch nicht für die Aufgabe geeignet, weil, so wörtlich: „sein Einfluss auf die breiten deutschen Massen begrenzt“ wäre. „Seine Werke sind trotz seiner Sympathien für das Volk zu avantgardistisch. Brechts Anhänger sind Intellektuelle und Bohemiens. Der Mann auf der Straße weiß wenig oder nichts über Brecht“. Hatten die eine Ahnung..


Jan Knopf, geboren 1944, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Karlsruhe und ist Mitherausgeber der „Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe“ der Werke Brechts.

PR-Profi Brecht: Der Kapitalismuskritiker nahm „großzügige Werbegeschenke“ an Bereits erschienene Beiträge im Brecht-Archiv Über Brecht Aktuell   Brecht Archiv   Theater&Film   Knopf über Brecht   Brechtiana   EXTRA   Auf einen Blick   Impressum